Stang, Richard:
Lernwelten im Wandel : Entwicklungen und Anforderungen bei der Gestaltung zukünftiger Lernumgebungen / Richard Stang. – Berlin/Boston: De Gruyter Saur, 2016. – XI, 243 Seiten : Illustrationen. – (Lernwelten). – ISBN 978-3-11-037933-4 : EUR 99.95 (auch als E-Book verfügbar)
Man durfte gespannt sein auf ein solches Buch, insbesondere auch aus der Sicht von Bibliotheken, denn die Wendung von der „Bibliothek als Lernort“ ist im bibliothekarischen Sprachgebrauch schon fast inflationär zu nennen, ohne dass bislang differenziert beschrieben worden wäre, was einen solchen Lernort eigentlich ausmacht, wie er zu begründen und auszugestalten ist. Das Buch von Richard Stang, Professor an der Hochschule der Medien in Stuttgart (HdM), verspricht nun exakt diese näheren Aufschlüsse. Es eröffnet die von ihm selbst herausgegebene neue Reihe „Lernwelten“ im Verlag De Gruyter Saur, die sich, wie es im Vorwort heißt, den Aspekten der didaktisch-methodischen Lehr-Lern-Settings, den Angebotskonzepten, den organisatorischen Gestaltungskonzepten, der Gestaltung von physischen bzw. digitalen Lernumgebungen und der Veränderung von Professionsprofilen widmen will. Zum Herausgebergremium zählen Expertinnen und Experten aus dem Bibliotheks- und dem Hochschulwesen sowie aus der Erwachsenenbildung, nicht nur aus Deutschland, sondern auch aus der Schweiz und aus Südtirol.
Der Band spiegelt dieses inhaltliche Profil durchaus wider, denn Stang geht in seinem Buch auf rund 50 Seiten (WB, ÖB) insgesamt auf die Bibliotheken ein; 60 Seiten beziehen sich allgemein auf Lernen, Lehren und Lernumgebungen, weitere 55 Seiten sind dann der Erwachsenen-/Weiterbildung bzw. den kommunalen Bildungszentren (Learning Centres) und dann noch einmal 25 Seiten den Zukunftsperspektiven gewidmet. Der inhaltliche Schwerpunkt des Buches liegt auf den außerschulischen Bildungseinrichtungen, wie es Stang einleitend auch klarstellt. Er will bewusst dem informellen, also nicht-institutionalisierten Lernen Raum geben; ein solches lebenslanges Lernen bedarf inspirierender, bildungsförderlicher Lernumgebungen oder „Lernwelten“. Der Rezensent hat das Buch sowohl aus der Sicht des Bibliothekars und des Teaching Librarian mit Schwerpunkt auf den Hochschulbibliotheken als auch aus der Sicht des Erziehungswissenschaftlers und Didaktikers gelesen. Für beide Sichtweisen bietet es zahlreiche Informationen und Anregungen und Stang versucht, Zusammenhänge zwischen den wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Lehren und Lernen generell und der Gestaltung spezifischer Lernumgebungen in den genannten Einrichtungen herzustellen.
In einem ersten umfangreichen Kapitel befasst sich Stang mit Begriffskontexten, so zum Beispiel mit den Definitionen von Information, Wissen, Kompetenz. Der Stand der Erkenntnisse bei diesen Termini wird beschrieben, auch kritisch hinterfragt. Insbesondere den Kompetenzdiskurs beleuchtet Stang: Es sei die Frage, ob es dabei auch um Mündigkeit oder primär um Handlungs- bzw. Fachkompetenz gehe. Sodann widmet Stang sich den Kernbegriffen Lernen als Aneignung, Lehren als Vermittlung bzw. als didaktisches Handeln sowie der Bildung, im Anschluss an den Bildungsforscher Gudjons: als Selbstvergewisserung, Selbstkonstitution und zeitgeschichtliche Ortsbestimmung. In Anlehnung an Standardlehrbücher der Erziehungswissenschaft beschreibt Stang die gängigen Lerntheorien, beginnend beim Behaviorismus und Kognitivismus bis hin zum Konstruktivismus, Konnektivismus und der pragmatischen Lerntheorie sowie der relationalen Theorie des Lernens nach Schaller und der subjektwissenschaftlichen Lerntheorie nach Holzkamp. Jeweils am Schluss der Darstellung dieser Lerntheorien reflektiert er, welche Schlussfolgerungen daraus für die Gestaltung der Lernumgebungen gezogen werden können. Er legt sich aber nicht auf einen Ansatz fest, sondern geht dann zum lebenslangen und zum selbstgesteuerten Lernen über. Er schlussfolgert, dass ein Perspektivenwechsel von der „Erzeugungsdidaktik, die durch genaue Planung des didaktischen Prozesses Lernerfolge erzeugen will, hin zur Ermöglichungsdidaktik, die in einem offenen Prozess individuelle Lernerfolge ermöglicht“, nötig sei (S. 40).
In gleicher Weise sondiert er den Erkenntnisstand zu Lernstilen und Lerntypen, zum Begriff des Lernraums und zu den didaktischen Theorien. Man hat hier etwas Mühe beim Lesen, weil eine innere Logik der Argumentation aufgrund der Aneinanderreihung von Theorien und Ansätzen nicht problemlos erkennbar ist. Das Auflisten der 46 (!) didaktischen Modelle nach dem Lehrbuch von Kron et al. (2014) erbringt wenig, so dass Stang zu der in der Erziehungswissenschaft seit jeher bekannten Dreiteilung in bildungstheoretische, lehr-/lerntheoretische und konstruktivistische Didaktik zurückkehrt. Danach folgen ein Abschnitt über Lernbegleitung und Lernberatung sowie ein weiterer über den Bildungsbegriff.
Stang versucht, eine Verbindung, ja sogar eine Synthese zwischen den verschiedenen Konzepten herzustellen und hält am Bildungsbegriff fest, auch wenn dieser in der deutschen Bildungstradition Humboldt’scher Prägung sowohl den Prämissen der berufsbezogenen Ausbildung als auch der Verfügbarkeit für erzieherisches und unterrichtliches Handeln weitgehend entzogen ist. Aber dies liegt auf der Linie von Stangs Ansatz, der eine klare Positionierung für das eine oder das andere Paradigma vermeidet, vielmehr Sympathien hat für einen offenen Bildungsbegriff, „der neben der Bestimmtheit, wie sie in klassischen Bildungseinrichtungen wie Schule lange die Leitkategorie war und teilweise noch ist, vor allem die Unbestimmtheit, mit flexiblen Optionen Bildungsprozesse individuell zu gestalten, als zentrales Element des Verständnisses von Bildung in sich trägt“ (S. 63). Er fordert eine stärkere gesellschaftliche und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Bildungsbegriff und hier liegt er zweifellos auf einer Linie mit starken Tendenzen in der öffentlichen Diskussion. Denn die Herausforderungen der Digitalisierung, auch ihre Gefahren und Risiken (beispielweise im Hinblick auf missbräuchliche Nutzung der sozialen Netzwerke, Verletzung von Persönlichkeitsrechten, Fake News), sind mit einer Kompetenzorientierung allein wohl nicht zu bewältigen, sondern bedürfen des persönlichen Kritik- und Urteilsvermögens.
Danach folgt ein weiteres längeres Kapitel über Lernwelten im Wandel: Hochschulen und wissenschaftliche Bibliotheken, öffentliche Bibliotheken, Erwachsenenbildung/Weiterbildung und Bildungs-/Kulturzentren. Seine Vorbilder für gelungene flexible Lernlandschaften sucht Stang in Skandinavien, in den Niederlanden und in Großbritannien. Diese orientierten sich primär am Bedarf der Nutzer, wie es das Vier-Räume-Modell der Öffentlichen Bibliothek veranschauliche: (1) Inspirationsraum/Begeistern, (2) Lernraum (Entdecken), (3) Treffpunkt/Mitmachen, (4) Performativer Raum (Kreieren) unter den Leitprämissen: Innovation, Beteiligung, Empowerment (S. 113).
Für Hochschulen und wissenschaftliche Bibliotheken eröffnen solche Modelle ebenfalls Anregungen, wie das entsprechende Kapitel im Buch veranschaulicht. Skizziert werden die maßgeblichen Entwicklungen im Hochschulsektor nach den Bologna-Reformen - auch mit Blick auf Leserinnen und Leser, die mit der Studienreform weniger vertraut sind. Für die Wissenschaftlichen Bibliotheken nimmt Stang den NMC-Report von 2016 als Hintergrund, um die Auswirkungen des technologischen Wandels auf die Hochschullehre und den Einsatz von Bildungstechnologien kurz-, mittel- und langfristig zu verdeutlichen. Die Wende vom Lehren zum Lernen sei geboten, auch wegen der Heterogenität der Zielgruppen, und das Angebotsspektrum der wissenschaftlichen Bibliotheken versuche, dem nachzukommen. Dies geschehe auch mithilfe von digitalen Lernszenarien, wie sie sinnvollerweise im Rahmen von LMS (Moodle, ILIAS, OLAT etc.) dargeboten werden könnten. Stang bietet dazu eine tabellarische Übersicht digitalisierter Lernelemente und -formate, geordnet nach dem Grad der Interaktion sowie nach dem Grad der Individualisierung (S. 86/87).
Als Raumkonzepte für die Hochschule und für die wissenschaftlichen Bibliotheken empfiehlt er in Anlehnung an vor allem von JISC entwickelte Modelle aus Großbritannien Lernraumgestaltungen, die auch das informelle, das aktive und das problembasierte Lernen unterstützen. Unterschätzt werde die Bedeutung von „Zwischenräumen“, insbesondere für die informelle Kommunikation. Auch sollten alle Flächen in der Hochschule dazu beitragen, eine „ganzheitliche Learning Community“ zu schaffen (siehe dazu auch deutsche und schweizerische Lernraumkonzepte, zum Beispiel des KIT Karlsruhe oder der UB Basel, die dem Rez. bekannt sind). Es fehle an Räumen für selbstständiges Arbeiten, so auch Befunde von HIS (Hochschul-Informations-System 2013), zum Beispiel im Rahmen der Bibliothek. Die elf zentralen Aspekte für die Gestaltung von Bibliotheksräumen nach Andrew McDonald könnten dazu Anhaltspunkte liefern. Ein Modell für die Neugestaltung von Bibliotheksräumen hat Stang selbst an der Hochschule der Medien Stuttgart in Form des LearnerLab 2014/15 mit entwickelt.
Aber welcher Organisationskonzepte für Hochschulen und wissenschaftliche Bibliotheken bedarf es, um die angestrebten Lernumgebungen zu realisieren? Es fehle an einer integrierten Strategie, bei der Bibliothek, IT-Service und Didaktikzentrum kooperierten, um eine Lerninfrastruktur für die Hochschule zu entwickeln. Man brauche eine hochschulweite Strategie, angesichts der erheblichen Komplexität von Flächen und Angeboten zum Lernen in der Hochschule. In den Erweiterungs- oder Neubauvorhaben einiger Hochschulbibliotheken, so in Freiburg und in Konstanz, seien, so Stang, zunehmend Räume für das selbstgesteuerte Lernen und für die Kommunikation entstanden, mit entsprechend eingerichteten und flexibel möblierten Zonen.
Im Zukunftsausblick stellt Stang, mit Bezug auch auf OECD-Studien sowie auf den NMC-Report 2016, die aus seiner Sicht für das Lernen zentralen Wandlungsprozesse heraus: Er sieht die Schwerpunkte bei der Individualisierung von Bildungszugängen und Bildungsprozessen, sodann bei der Verbindung von formalem, non-formalem und informellem Lernen, weiter bei der Neugestaltung von Lehr-Lern-Umgebungen, schließlich bei der Verknüpfung von Offline- und Online-Zugängen zu Bildung. In den Bibliotheken müsse die gängige Produktperspektive einer Prozessperspektive weichen. Lernen sei dann nicht mehr nur Wissensaneignung, sondern vor allem Wissensgenerierung. Dazu müsse ein stärkerer Akzent auf dem Lernen selbst liegen, nicht allein auf dem Lehren. Ein offener Lernraum könne diesen „shift from teaching to learning“ unterstützen. Insofern ist die Akzentuierung des Werks von Richard Stang auf die Aspekte der Lernwelten und der Lernumgebungen konsequent. Er betont die Vielfalt, sucht nach Aufweichungsprozessen und Neuorientierungen der Lernwelten und will die „integrierte Perspektive“ stärken. Er plädiert für einen „Optionsraum Lebenslanges Lernen“, für ein „atmendes Bildungssystem“, das sich an individuellen Bildungsbiographien orientiert und gleichzeitig eine Rahmung schafft. Der Wandel solle aktiv gestaltet werden.
Kritisch anzumerken wäre, dass es im Hinblick auf die Konzeption der Lernwelten im außerschulischen Kontext (informelles, selbstorganisiertes Lernen) eventuell besser gewesen wäre, nicht nur solche lehr-lerntheoretischen bzw. didaktischen Konzepte zu durchmustern, die eben primär auf das Lernen und Unterrichten ausgerichtet sind. Vielleicht wäre es vorteilhaft gewesen, sich daneben mit einem Theorieansatz des individuellen und selbstbestimmten Lernens, auch im Gruppenkontext, zu befassen und dann Erkenntnisse der ökologischen Sozialisationsforschung (wie sie seinerzeit Uri Bronfenbrenner vertreten hat) für die theoretische Untermauerung der Lernraumgestaltung zu nutzen? Zudem fällt auf, dass Stang die unterschiedlichen Zielgruppen der von ihm thematisierten Bildungsinstitutionen weniger analysiert, sondern vor allem von den Anforderungen der Institutionen und deren räumlichen Arrangements her denkt. Die Heterogenität der Gesellschaft, die unterschiedlichen Lern- und Bildungsvoraussetzungen in einer kulturell stark gemischten Gesellschaft, das sich im Zuge der Digitalisierung wandelnde Informations-und Lernverhalten der jungen wie der älteren Menschen bleiben dadurch etwas unterbelichtet.
Die Lesbarkeit des Buches wird ein wenig dadurch beeinträchtigt, dass es zum Teil längere Auflistungen enthält, jedoch erleichtern die klare Gliederung und die Zusammenfassungen am Schluss jedes der drei Hauptkapitel das Lesen. Ein umfangreiches Literaturverzeichnis, ein Abkürzungsverzeichnis sowie ein Register unterstützen ebenfalls die Lektüre des Lehrbuchs, das nicht nur Auszubildende und Studierende mit großem Gewinn nutzen können, sondern auch Bibliothekarinnen und Bibliothekare, die mit der strukturellen, baulichen und didaktischen Modellierung von innovativen Lernumgebungen in ihren Bibliotheken befasst sind. Dabei sollte die gründliche Einbettung dieser raumbezogenen Überlegungen von Stang in die lehr-lerntheoretischen Kontexte verhindern, dass erstere sich verselbständigen. Lernwelten sind eben – wie das Buch von Stang deutlich macht – keine bloße Angelegenheit der Architektur, sondern letztlich sollen sie dem Erfolg der jungen, der heranwachsenden und der erwachsenen Menschen im Prozess ihres lebenslangen Lernens dienen.