Hohoff, Ulrich:
Wissenschaftliche Bibliothekare als Opfer der NS-Diktatur: ein Personenlexikon / Ulrich Hohoff. – Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2017. – XIII, 415 Seiten. – (Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen ; Band 62). – ISBN 978-3-447-10842-3 : EUR 72.00
Die Geschichte der wissenschaftlichen Bibliotheken in der Zeit des Dritten Reiches ist seit vielen Jahren dank zahlreicher Einzel- und Sammelbände längst kein weißer Flecken mehr.1 Das gilt, vielleicht in etwas eingeschränkterem Maße, auch für die in jener Zeit handelnden Personen; es trifft aber nur sehr begrenzt für jene Bibliothekarinnen und Bibliothekare zu, die Opfer der nationalsozialistischen Diktatur geworden sind.
Ihrer hat sich seit Jahren Ulrich Hohoff angenommen. 2015 publizierte er in dieser Zeitschrift als Ergebnis zweijähriger Recherchen einen Überblick über rund 250 Bibliothekarinnen und Bibliothekare, die in Deutschland, Österreich und in den durch deutsche Truppen besetzten europäischen Staaten Opfer der NS-Diktatur geworden waren. In einem ersten Teil stellte er 243 entlassene Personen und jene Bibliotheken vor, in denen diese zuvor tätig gewesen waren.2 In einem zweiten Teil listete er 131 Exilaufenthalte von Bibliothekarinnen und Bibliothekaren auf, die ab 1933 emigrieren mussten.3 Auch erinnerte er an 63 Bibliothekarinnen und Bibliothekare, die Widerstand geleistet hatten, sowie an 52 Menschen, die in ein Konzentrationslager oder Ghetto deportiert worden waren; darunter befanden sich einzelne, die überlebt hatten und nach Kriegsende zurückgekehrt waren. In der nun vorliegenden Buchausgabe erfolgt die damals angekündigte Publizierung aller Lebensläufe, deren Zahl seitdem von 250 auf 281 angewachsen ist. Aber auch diese Zahl wird angesichts der Quellenlage nicht abschließend sein können. Das gilt auch für die entlassenen und verfolgten wissenschaftlichen Bibliothekarinnen und Bibliothekare in Österreich und ganz besonders für die Opfer in den von Deutschland okkupierten Ländern.
Um den Kreis der Betroffenen zu bestimmen, waren zuvor einige Kriterien erforderlich, die Hohoff eingangs mitteilt (S. VIII). Zielgruppe seiner Recherche waren demnach „die Opfer der NS-Diktatur unter allen wissenschaftlichen Bibliothekarinnen und Bibliothekaren, die in Deutschland, in Österreich und in den ab 1939 besetzten Ländern arbeiteten. Als Opfer wird hier bezeichnet, wer durch das NS-Regime entlassen, vertrieben oder deportiert wurde, wer große berufliche Nachteile hinnehmen musste oder massiver Gewaltanwendung ausgesetzt war. Als Bibliothekarin bzw. Bibliothekar gilt im Rahmen dieser Arbeit, wer mindestens zwei Jahre lang hauptberuflich im Bibliotheksberuf tätig war.” Das Augenmerk richtete sich auf die Tätigkeit in wissenschaftlichen Bibliotheken einschließlich Spezialbibliotheken, in einzelnen Fällen auch auf die Berufsausübung in Großstadtbibliotheken, namentlich in wissenschaftlichen Stadtbibliotheken. Gemeint sind stets Bibliothekarinnen und Bibliothekare mit einem wissenschaftlichen Abschluss, der häufig aus der Promotion bestand. Rund ein Drittel der Betroffenen war Mitglied im Verein Deutscher Bibliothekare.
Kernstück des Buches ist das alphabetisch angelegte Personenlexikon, das die aus zahlreichen Unterlagen erstellten Lebensläufe der 281 Personen ab 1933 nach einem jeweils gleichen Raster beschreibt. Aufgeführt werden Name, Beruf, Geburtsdatum und Geburtsort, Entlassung und Lebenslauf nach 1933, Quellen und – falls vorhanden – Personalbibliografie.
In einem mit „Einleitung” überschriebenen analytischen Teil des Buches wertet Hohoff die ermittelten Biografien aus. Er gibt zunächst einen Überblick über die Entlassungen nach Ländern und innerhalb Deutschlands nach Orten und fragt dabei nach den Gründen, die entweder gleich 1933 oder zu einem späteren Zeitpunkt zur Entlassung führten. Um einen Eindruck zu vermitteln, beschränkt sich der Rezensent an dieser Stelle auf die von Hohoff ermittelten Zahlen für Deutschland.
Insgesamt verloren 13 Bibliothekarinnen und 75 Bibliothekare am Beginn der NS-Herrschaft ihren Arbeitsplatz – davon 38 aus rassistischen und 43 aus politischen, die übrigen aus nicht rekonstruierbaren Gründen. Diese 88 Personen waren zuvor in 62 Bibliotheken tätig gewesen, 73 von ihnen waren promoviert und 40 besaßen die Mitgliedschaft im VDB, weitere acht im Verein Deutscher Volksbibliothekare (VDV). Nach 1933 wurden weitere sieben aktive Bibliothekarinnen und 54 Bibliothekare aus 35 Bibliotheken entlassen. Auch hier spielten rassistische (21) und politische (20) Gründe die entscheidende Rolle, und auch hier war die Zahl der Promovierten mit 44 und die Zahl der VDB-Mitglieder mit 26 signifikant hoch. Nimmt man noch diejenigen Personen hinzu, die in früheren Jahren in einer Bibliothek gearbeitet hatten, später aber in andere Berufe gewechselt waren, dann addiert sich die Zahl der in Deutschland zwischen 1933 und 1945 Entlassenen auf 167 Personen.
In einem weiteren Kapitel widmet sich Hohoff den Bibliothekarinnen und Bibliothekaren, die während der NS-Diktatur ihren Arbeitsplatz verloren und daraufhin emigrierten. Manche von ihnen mussten nach Beginn des Zweiten Weltkrieges ein weiteres Mal flüchten, da ihr Aufenthaltsort inzwischen nicht mehr sicher war. Insgesamt konnten 134 Exilaufenthalte nachgewiesen werden, verteilt auf 29 Zielländer. Relativ vielen, nämlich 40 Geflohenen, gelang es, im Exil zumindest zeitweise in ihrem gelernten Beruf zu arbeiten.
Gewiss zu Recht betont Hohoff an manchen Stellen seines Buches, dass die von ihm ermittelten Zahlen und Daten nur einen Zwischenstand der Forschung darstellen. Das gilt insbesondere hinsichtlich der Bibliothekarinnen und Bibliothekare, die Widerstand leisteten. Waren bisher nur ganz wenige Namen bekannt, so wissen wir nun dank Hohoffs Recherchen, dass deren Zahl deutlich höher anzusetzen ist. Freilich gilt es an dieser Stelle zunächst einmal zu definieren, was unter Widerstand verstanden werden soll bzw. welche Arten von Widerstand es gegeben hat. Das fängt bei der Verweigerung des Diensteids auf Adolf Hitler an und endet bei der aktiven Mitwirkung in einer verbotenen Partei oder einer Widerstandsorganisation, etwa der „Roten Kapelle”. Die gegenwärtige Quellenlage lässt zu, für immerhin 34 Personen aus Deutschland Belege zu entdecken, die Widerständigkeit dokumentieren.
Das dunkelste Kapitel in Hohoffs Einleitung ist der Deportation gewidmet. 42 Bibliothekare und drei Bibliothekarinnen aus Deutschland, Österreich und den besetzten Ländern wurden in ein Konzentrationslager deportiert; 18 KZ-Häftlinge überlebten die Lager. Von weiteren acht Bibliothekskollegen, die in Ghettos transportiert worden waren, überlebten nur zwei die NS-Diktatur. Schließlich sind diejenigen Opfer zu erwähnen, die in Gefängnisse und Lager gesperrt wurden und dort teilweise umgekommen sind.
Welchen beruflichen Neuanfang haben die entlassenen und verfolgten, auch die nach ihrer Befreiung in ihr Ursprungsland zurückgekehrten Bibliothekarinnen und Bibliothekare in der Zeit nach 1945 nehmen können? In einer abschließenden Übersicht zeigt Hohoff, in welchen Bibliotheken und in welcher Funktion diejenigen arbeiteten, die ihren Beruf im Bibliothekswesen wieder aufgenommen hatten.
Das Buch wäre noch nicht hinreichend gewürdigt, wenn nicht auch die im Anhang befindlichen Übersichten erwähnt würden, denn auch sie sind für alle bibliothekshistorisch arbeitenden Forscherinnen und Forscher von großem Nutzen. In Fortsetzung seiner Auswertung der Einzelbiografien listet Hohoff zunächst die letzten Dienstorte vor der Entlassung bzw. Verfolgung auf und benennt dann die Wissenschaftsfächer und weiteren Berufe der behandelten Bibliothekarinnen und Bibliothekare. Zwei Verzeichnisse dokumentieren die verwendete Literatur zur Einleitung und zu den Lebensläufen (wobei hier nur die für mehrere Lebensläufe ausgewerteten Quellen aufgeführt werden, da ja bei jeder biografierten Person die jeweils spezifischen Fundorte angezeigt werden). Ein gemeinsames Register der Personen, Körperschaften und Orte schließt das Buch ab.
Die vorliegende Dokumentation zu den Opfern der NS-Diktatur aus dem Kreis der wissenschaftlichen Bibliothekarinnen und Bibliothekare schließt eine große Lücke in der bibliothekshistorischen Forschung für die Zeit des Nationalsozialismus. Die Beschäftigung mit der Bibliotheksgeschichte unter den Bedingungen der NS-Diktatur hat sich in den vergangenen Jahren in zahlreichen Einzel- und Überblicksdarstellungen niedergeschlagen. Auch viele der in jener Zeit im wissenschaftlichen und öffentlichen Bibliothekswesen aktiv handelnden Personen sind hinsichtlich ihres beruflichen und persönlichen Verhaltens in den Blick genommen worden, beispielsweise im Rahmen von zwei Tagungen (und zwei Tagungsbänden) des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Bibliotheks-, Buch- und Mediengeschichte.
Deutlich weniger bekannt war das Schicksal all jener Bibliothekarinnen und Bibliothekare, die Opfer der nationalsozialistischen Herrschaft wurden. Zwar sind einzelne von ihnen bereits Gegenstand biografischer Arbeiten gewesen (wenn auch nicht unbedingt von bibliothekshistorischer Seite aus), aber eine umfassende – wenn auch nicht unbedingt abschließende – Zusammenstellung aller NS-Opfer gab es bislang nicht. Es ist das Verdienst Ulrich Hohoffs, in jahrelanger Kärrnerarbeit, deren Mühen der Rezensent aus eigener Erfahrung einzuschätzen und zu würdigen weiß, einen weißen Flecken auf der Forschungslandkarte beseitigt zu haben. Doch nicht allein das gilt es zu würdigen; Hohoffs Anliegen ist vielmehr auch von der Absicht getragen, „die durch die NS-Diktatur verfolgten wissenschaftlichen Bibliothekare aus dem Vergessen zu holen” und an sie zu erinnern. Möge das Buch genau dazu beitragen!
1 Das belegen neuere Zusammenfassungen des Forschungsstandes, zuletzt: Wilfried Enderle, „Kontinuität der Krise, Krise der Kontinuität? – Zur Geschichte wissenschaftlicher Bibliotheken im Nationalsozialismus,” Bibliothek. Forschung und Praxis 41, Nr. 3 (2017): 330-352, https://doi.org/10.1515/bfp-2017-0047.
2 Ulrich Hohoff, „Wissenschaftliche Bibliothekarinnen und Bibliothekare als Opfer der NS-Diktatur – eine Übersicht über 250 Lebensläufe seit dem Jahr 1933. Teil 1: Die Entlassungen,” o-bib 2, Nr. 2 (2015): 1-32, https://doi.org/10.5282/o-bib/2015H2S1-32.
3 Ulrich Hohoff, „Wissenschaftliche Bibliothekarinnen und Bibliothekare als Opfer der NS-Diktatur – eine Übersicht über 250 Lebensläufe seit dem Jahr 1933. Teil 2: Emigration, Widerstand, Deportation und Gefangenschaft,” o-bib 3, Nr. 2 (2016): 1-41, https://doi.org/10.5282/o-bib/2016H2S1-41.