Price, Leah:
What we talk about when we talk about books : the history and future of reading / Leah Price. – First edition. – New York: Basic Books, 2019. – 214 Seiten : Illustration. – ISBN 978-0-465-04268-5 : GBP 28.00 (auch als E-Book verfügbar)

Die Anglistikprofessorin und Buchhistorikerin an der Rutgers University Leah Price hat ein Buch über ein Thema geschrieben, das zurzeit sehr populär ist: die Geschichte und Zukunft des Lesens. Die meisten derartigen Analysen versuchen die These zu belegen, dass wir Zeugen eines historisch einmaligen Medienumbruchs seien. Manche behaupten sogar, dass mit dem gedruckten Buch im digitalen Zeitalter etwas Unersetzliches verloren gehe. Je größer die kulturkritische Besorgnis ist, dass wir uns in den unendlichen Ablenkungen der digitalen Welt verlieren, so beobachtet Leah Price, desto heller erstrahlt das gedruckte Buch als Gegenwelt des sich versenkenden Lesens.

Die Autorin findet, dass die Wehklagen nicht berechtigt sind. Die aktuellen Veränderungen hätten wenig mit dem Unterschied zwischen gedruckten und elektronischen Büchern zu tun. Viel entscheidender seien die Interaktionen, durch die wir an Texte gelangen, und noch grundlegender: die Interaktionen, die das Verlangen nach Texten wecken. Diejenigen, die Texte schreiben, und diejenigen, die sie lesen, kommunizierten keineswegs unmittelbar. Vielmehr seien letztere abhängig von Institutionen, die Bücher verkaufen, ausleihen oder sonst wie zugänglich machen. Ihrer Überzeugung nach tragen Infrastrukturen durchweg mehr zur Veränderung des Lesens bei als dieser oder jener Schriftspeicher, seien es Schriftrollen, gedruckte Bücher oder Kindle Reader.

Prices Buch ist ein einziger Frontalangriff auf aktuell kursierende Kurzschlüsse über „das Buch“. So weist sie z.B. nach, dass man von einem gegenwärtig stattfindenden disruptiven Wandel nur sprechen kann, wenn man die ganze Buchgeschichte als monolithischen Block sieht. Gedruckte Medien hätten sich immer als höchst innovativ erwiesen, nicht nur als sie die mittelalterlichen Handschriften ablösten, sondern auch im Hinblick auf das Aufkommen von Zeitungen oder die massenhaft verbreiteten Romane als Paperbacks. Die einzige Konstante in der Buchgeschichte sei die Fähigkeit, neue Formen zu entwickeln, die wiederum neue Arten des Lesens hervorbrächten.

Auch die digitalen Medien hätten unseren Begriff vom Lesen revolutioniert: Elektronische Bücher müssten nicht mehr nur mit anderen Büchern, sondern auch mit kürzeren und visuell eindrucksvolleren Medien konkurrieren. Die Autorin fragt nüchtern nach dem Gebrauch, den Leser von Texten machen, in welcher physischen Form auch immer sie vorliegen, und schreckt auch nicht vor der Grundsatzfrage zurück, ob Lesen prinzipiell eine Tugend sei.

Price erinnert an die gut belegte Tatsache, dass das Lesen stark vom Geschlecht und vom Alter abhängt: Mehr Frauen als Männer würden regelmäßig lesen, vor allem solche, die zu jung oder zu alt seien für die Erwerbstätigkeit. Sei das Lesen früher ein Zeichen für wirtschaftliche Stärke gewesen, so sei es heute Sache derer, deren Zeit nicht so kostbar ist. Heute sei ein möglicher Hinderungsgrund fürs Lesen nicht mehr ein Mangel an Büchern, sondern ein Mangel an Zeit. Derselbe Angestellte, der früher in der U-Bahn etwa eine Biografie als Taschenbuch gelesen habe, nutze heute die Zeit, um E-Mails zu beantworten. Dieser Wandel habe mehr mit der veränderten Arbeitswelt als mit der Einstellung zum Buch zu tun.

Es ist ein besonderes Verdienst des Buches von Price herauszuarbeiten, dass Lesen auch als sozialer Akt verstanden werden muss. Dabei ist nicht nur an Vorlesen, Lesezirkel, Bibliotherapie oder an Formen der Sozialarbeit mit dem Buch zu denken, wenn z.B. Gefängnisinsassen oder Obdachlosen über das Buch Möglichkeiten der Teilhabe und Kommunikation eröffnet werden – also dann, wenn Lesen Mittel zum Zweck der Gesundheit, der Empathie oder der Integration in die Gesellschaft sei. Vielmehr könne Lesen prinzipiell Auslöser für Kommunikation bei allen erdenklichen Gelegenheiten, auf den verschiedensten Plattformen und Wegen sein, und das findet Leah Price im digitalen Zeitalter besonders ermutigend. Ihr Blick auf die Zukunft des Lesens ist überhaupt nicht pessimistisch, sondern erwartungsvoll.

Die Autorin argumentiert sowohl buchgeschichtlich wie lesersoziologisch, allerdings nicht in Form einer streng wissenschaftlichen Untersuchung, sondern, wie es als Glücksfall bei angelsächsischen Wissenschaftsbüchern gelegentlich vorkommt, in Form eines glänzend geschriebenen, sehr humorvollen und die eigene Subjektivität nicht verleugnenden Essays voller überraschender Nebenwege. Als Beispiel für eines ihrer zahlreichen Aperçus sei zitiert (S. 78): „It remains to be seen whether books will have more in common with playing cards and money – paper goods for which digital equivalents quickly emerged – or with tea bags and diapers.“

What we talk about when we talk about books ist ein gelungener Versuch, die Einsichten verschiedener Disziplinen, die sich mit dem Lesen beschäftigen, für ein größeres Publikum aufzubereiten. In den USA wurde die Arbeit überaus breit rezipiert. In Deutschland haben sich bisher nur sechs Bibliotheken entschließen können, ihrer Leserschaft das Buch anzubieten. Wenn der stets gut informierte Literaturredakteur Lothar Müller es nicht zitiert hätte,1 wäre ich nicht darauf gestoßen. Noch ist es lieferbar.

Michael Knoche, Weimar

Zitierfähiger Link (DOI): https://doi.org/10.5282/o-bib/5622

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1 Müller, Lothar: Tiefe Sehnsucht. Je weiter die Digitalisierung voranschreitet, desto glanzvoller erscheint die Geschichte des gedruckten Buches, in: Süddeutsche Zeitung vom 26.11.2019. Online: <https://www.sueddeutsche.de/kultur/wie-wir-lesen-tiefe-sehnsucht-1.4692969>, Stand: 17.07.2020.