Der Bibliothekar als Grundlagenforscher
Zum Tod von Kurt Hans Staub
Kurt Hans Staub, der am 4. März 2021 im Alter von 88 Jahren verstorben ist, entsprach dem Typus des Gelehrtenbibliothekars geradezu idealtypisch. Er verkörperte den Bibliothekar als Quellenforscher, der in die Sammlungsbestände eintauchte und Wege öffnete, kurz: Erschließung war sein berufliches Lebenselixier.
In der Einleitung zur Festschrift anlässlich seines 70. Geburtstages hat Wolfgang Schmitz ihn einen „kenntnisreichen und leidenschaftlichen Freund des historischen Buches“ genannt.1 Die beiden Adjektive umreißen zutreffend die Spannweite der Beziehung zu seinem Beruf, dessen Schwerpunkte in der Handschriften-, Inkunabel- und Einbandforschung lagen.
Kurt Hans Staub hat 30 Jahre lang die Handschriftenabteilung der Hessischen Landes- und Hochschulbibliothek – der heutigen Universitäts- und Landesbibliothek – Darmstadt geleitet.
Geboren 1933 in Elgershausen bei Kassel studierte er von 1954 bis 1962 Geschichte, Latein und Pädagogik in Marburg, Berlin (FU) und Pavia (Italien). Zwei prägende akademische Lehrer – die Mediävisten Helmut Beumann und Ludwig Buisson – weckten seine Begeisterung für Hilfswissenschaften und Quellenforschung, was letztlich die Keimzelle für den beruflichen Weg ins Bibliothekswesen gewesen ist. 1965 - 1967 absolvierte er das Referendariat zum höheren Dienst an der Landes- und Hochschulbibliothek Darmstadt und wurde 1969 dort als Bibliotheksassessor eingestellt – Start eines beruflichen Lebensweges, der 1998 als Bibliotheksoberrat in derselben Institution enden sollte. Neben seinen erwähnten Tätigkeiten in der Bestandserschließung und -erforschung legte er besonderen Wert auf die Ausbildung des bibliothekarischen Nachwuchses (mit einem Lehrauftrag an der Bibliotheksschule Frankfurt am Main) sowie des Studienganges Typographie innerhalb der inzwischen nicht mehr bestehenden Lehrdruckerei der damaligen TH – heute TU – Darmstadt. Zudem nahm er mehrere Lehraufträge für Handschriftenkunde und Buchwesen an den Universitäten Heidelberg und Mainz wahr.
Nicht zuletzt hielt er stets den wissenschaftlichen Kontakt in sein geliebtes (Süd)Italien, wo er in und nach seiner Studienzeit als Lektor gearbeitet hatte und seitdem die tiefe Zuneigung zu diesem Land, seiner Kultur und Geschichte zeitlebens behielt.
Kurt Hans Staub war Forscher und Vermittler, was zugleich eine zeitlose Beschreibung des Berufes wissenschaftlicher Bibliothekarinnen und Bibliothekare ist. Beide Aspekte waren ihm offenkundig gleichermaßen wichtig; er konnte sich mit derselben Intensität in die Erschließungsarbeit vertiefen wie er als Lehrer Faszination wecken konnte, weil er von seinem Tun selbst spürbar begeistert war. Er hegte ausgeprägte pädagogische Ambitionen, immer wieder hat er junge Leute angeregt, ermutigt und ihnen Forschungsthemen vermittelt. Kolleginnen und Kollegen, die mit ihm zusammengearbeitet haben, berichten übereinstimmend, dass er sie mit nachhaltiger Wirkung in die Welt des alten Buches eingeführt habe.
Für die mit gleicher Leidenschaft verfolgte Bestandserschließung stehen an prominenter Stelle die Darmstädter Handschriftenkataloge, in deren Bearbeitung er, noch gemeinsam mit seinem Vorgänger und bibliothekarischen Lehrer Hermann Knaus, in den 1970er Jahren mit Band 4 einstieg. Mit weiteren wissenschaftlichen Partnerautoren erarbeitete so bis 2002 – vier Jahre nach seinem Eintritt in den Ruhestand – drei Katalogbände.
Bezeichnend für seine Begeisterungsfähigkeit und sein weit über die Zuständigkeit in der Darmstädter Bibliothek hinausgehendes Engagement war sein Einsatz für die historische Kirchenbibliothek der Stadt Michelstadt im Odenwald, die nach ihrem Sammler, dem in der Stadt um 1443 geborenen Theologen und späteren Rektor der Universität Freiburg Nicolaus Matz benannt worden ist. Staub brachte Kataloge der Inkunabeln und Handschriften dieser Bibliothek gemeinsam mit seiner Frau und seinem Sohn heraus und setzte sich in jeder Hinsicht für die professionelle Sichtbarmachung des besonderen regionalen Bücherschatzes ein.
Die in der erwähnten, jener Michelstädter Kirchenbibliothek gewidmeten Festschrift zum 70. Geburtstag erstellte Bibliographie2 zeigt als seine zentralen Forschungsgegenstände Textüberlieferung und Provenienz – womit die inhaltlichen und materiellen Dimensionen beschrieben sind, die ihn als Buchwissenschaftler reizten.
Vor diesem Hintergrund bilden sich zwei große Lebensthemen des forschenden Bibliothekars Staub ab: die Klosterbibliotheken, aus denen viele Darmstädter Buchbestände stammen, und, damit zusammenhängend, die Welt und das Mitteilungspotential der Bucheinbände einschließlich der mit ihnen buchstäblich verbundenen Fragmente. An dieser Schnittstelle der individuellen, physischen Erscheinung einzelner Bände konnte sich sein Recherchebedürfnis zu geradezu kriminalistischem Spürsinn steigern.
In seiner Hausarbeit zur Abschlussprüfung des höheren Bibliotheksdienstes untersuchte er „die Handschriften des Dominikanerklosters Wimpfen/Neckar“, die als Säkularisationsbestände nach Darmstadt gekommen waren und fand damit zugleich sein Dissertationsthema für die 1980 erschienene Arbeit zur Geschichte jener Klosterbibliothek.3
In der Einbandforschung setzte er die Darmstädter Traditionen fort, die mit den Namen Adolf Schmidt (1857-1935) und Staubs erwähntem Vorgänger Hermann Knaus (1907-1984) verbunden sind. Zu seinem Eintritt in den Ruhestand 1998 würdigte es der Einbandforscher Konrad von Rabenau, dass Staub „den Einbänden besonderes Augenmerk gewidmet“ habe. „Mit besonderer Vorliebe und klarer Methodik hat Kurt Hans Staub die Kenntnis der Einbandeigenart benutzt, um Handschriftenfragmenten auf die Spur zu kommen. … Er darf … die Gewißheit haben, daß viele von seinen Leistungen und Veröffentlichungen Nutzen gezogen haben und von ihm auch weiter wichtige Anregungen erwarten.“4
Diese Feststellung hat Kurt Hans Staub scheinbar als Aufforderung genommen, sich nach seinem Ruhestand ohne Unterbrechung weiterhin der bibliothekarischen Quellenforschung zu widmen. In nicht versiegender Neugier auf verborgene Entdeckungen zog er sozusagen über den Rhein nach Mainz weiter, um die dortige Inkunabelüberlieferung zu untersuchen. Daraus resultierte unter anderem die weithin beachtete Entdeckung von Bruchstücken der seit dem frühen 19. Jahrhundert in Etappen rekonstruierten Nibelungenhandschrift L. Die zuvor letzten Funde hatte Staub selbst 1988 in der bereits 1909 untersuchten Inkunabel aus der Martinus-Bibliothek in Mainz gemacht – ein für seine äußerst akribische Arbeitsweise beim Nachvollzug von Provenienzwegen anhand der Bucheinbände bezeichnender Vorgang –, und 2003 fand er als Abklatsch im Innendeckel einer Inkunabel des Gutenberg-Museums weitere Teile der durch Makulatur verstreuten Handschrift. In dem anlässlich der folgenden „Nibelungenschnipsel“-Ausstellung erschienenen, gleichnamigen Sammelband werden derartige Funde als Sternstunden der Einbandforschung beschrieben, und es wird deutlich, dass genau solche Ereignisse für Kurt Hans Staub zu den schönsten Momenten seines Lebens als forschender Bibliothekar gehört haben müssen. „… der Mainzer Nibelungencodex findet wieder zusammen. Das verdanken wir der beharrlichen und erfolgreichen Forscherleistung von Kurt Hans Staub, seiner[!] Fragmentenfunde und der Entdeckung des Nibelungenbinders’.“5
Gemäß seinem persönlichen Wesen, zu dessen vorrangigen Charakterzügen nach übereinstimmender Meinung aller, die über längere Zeit mit ihm zusammengearbeitet haben, die Bescheidenheit gehörte, machte er selbst darum wenig Aufhebens. Allerdings verhehlte er auch nicht, was er von eher auf mediale Aufmerksamkeit als auf wissenschaftliche Genauigkeit zielenden Scheinsensationen wie dem im selben Jahr 2003 als Nibelungenfragment publizierten Fund aus Zwettl hielt, der in den Medien unrühmlich als „fauler Nibelungenzauber“6 bekannt geworden war. Der ehrliche Ärger, den er dabei artikulierte, bezog sich jedoch ausdrücklich nur auf die mangelnde wissenschaftliche Sorgfalt und Redlichkeit, niemals auf Fragen der persönlichen Reputation. „Herr Staub hatte übrigens die sehr sympathische Eigenschaft, Erfolge stets großzügig zu teilen und nicht … für sich alleine zu verbuchen.“7 In diesem Sinne war er auch für die heute in den historischen Sammlungen der ULB Darmstadt Tätigen jederzeit und gerne in allen Fragen ansprechbar.
Selbst wenn man ihn, wie die Autorin, nur noch für kurze Zeit bereits im Ruhestand kennenlernte, fiel seine selbstironische Eigenheit auf, von sich in der 3. Person zu sprechen, sich gewissermaßen von außen zu betrachten. So pflegte er zur Begrüßung im kollegialen Umgang „Staub ist hier“ oder augenzwinkernd „ja, Staub ist überall“ zu sagen, wenn er unvermutet auftauchte. Seine Abschiedsfloskel war stets ein schlichtes „bis dann“.
Sein Vermächtnis bleibt in der ULB Darmstadt bestehen in einer, neben den aufgelisteten Publikationen zu den historischen Bibliotheksbeständen, kaum zählbaren Fülle von Kommentaren und Annotationen in analogen Nachweisinstrumenten und alten Katalogen. Diese bilden wiederum wertvolle Anregungen für die seit Jahren laufende und in Kürze zum Abschluss kommende Katalogisierung der mittelalterlichen Darmstädter Handschriften. Dann wird auch das lang erwartete Handschriftenportal an den Start gegangen sein, was Kurt Hans Staub bestimmt noch gerne erlebt hätte, hatte er sich doch schon früh für elektronische Datenerfassung, Digitalisierung und Mailkommunikation begeistert.
Nicht nur die Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt verdankt ihm wegweisende Impulse in und für die Bestandserschließung. Sie hat einen während und nach seiner Dienstzeit ebenso hochkompetenten wie liebenswerten Kollegen verloren.
Dieses Werk steht unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 4.0 International.
1 Schmitz, Wolfgang (Hg.): Bewahren und Erforschen. Beiträge aus der Nicolaus-Matz-Bibliothek (Kirchenbibliothek) Michelstadt. Festgabe für Kurt Hans Staub zum 70. Geburtstag, Michelstadt 2003, S. 12.
2 Ebd., S. 364-371.
3 Staub, Kurt Hans: Geschichte der Dominikanerbibliothek in Wimpfen am Neckar (ca. 1460-1803), Graz 1980 (Studien zur Bibliotheksgeschichte, Bd. 3).
4 Rabenau, Konrad von: Kurt Hans Staub als Einbandforscher, in: Einband-Forschung 2, 1998, S. 1.
5 Hinkel, Helmut (Hg.): Nibelungen Schnipsel. Neues vom alten Epos zwischen Mainz und Worms, Mainz 2004.
6 Kommentar von Joachim Heinzle im Marburger UniJournal zur „Entdeckung“ in Zwettl, zitiert nach <https://www.derstandard.at/story/1367789/naechste-runde-im-gelehrtenstreit-um-zwettler-nibelungenfragmente>, Stand: 01.04.2021.
7 Persönliche Erinnerung von Irmgard Bröning, Mitarbeiterin der Handschriftenabteilung, die Staub über seine gesamte Dienstzeit begleitete.