Brücken bauen

Die Exlibris von Ernst G. Preuß

Sebastian Finsterwalder, Zentral- und Landesbibliothek Berlin

Zusammenfassung

Eine erfolgreiche und zielführende Provenienzforschung bemisst sich u.a. an der eindeutigen Identifikation von Eigner*innenzeichen wie Widmungen, Unterschriften und Exlibris, sowie der Restitution der untersuchten Objekte. Am Beispiel der Identifikationsgeschichte der Exlibris des in Deutschland als Jude verfolgten und ins Exil getriebenen Sozialpolitikers Ernst G. Preuß (1891–1966) wird nachgezeichnet, wie hilfreich ein offener Umgang mit erhobenen Forschungsdaten und wie entscheidend die Inanspruchnahme nichtbibliothekarischer Fachkompetenzen sein kann, um eine solche Provenienzforschung umsetzen zu können.

Summary

Successful and purposeful provenance research is measured, among other things, by the clear identification of owner’s marks such as dedications, signatures and bookplates, as well as the restitution of the objects examined. Using the example of the identification process of the bookplates of the social policy expert Ernst G. Preuß (1891–1966), who was persecuted as Jewish in Nazi Germany and forced into exile, it is shown how helpful it can be to deal openly with the research data collected and how essential it is to draw on the expertise of non-librarians in order to implement a provenance research of this kind.

Zitierfähiger Link (DOI): https://doi.org/10.5282/o-bib/5740

Finsterwalder, Sebastian: GND 110778154X; ORCID: https://orcid.org/0000-0003-1052-9322

Schlagwörter: Provenienzforschung

Dieses Werk steht unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 4.0 International.

1. Bibliotheken und Provenienzforschung: Relativ gute Ausgangslage

Auch im Jahr 2021 kann man in Bezug auf die Provenienzforschung in Bibliotheken noch immer sagen, dass sie ein relativ junges Feld ist. Entsprechend heterogen sind die Ansätze, sich diesem Thema zu widmen. Das Ziel der Arbeit provenienzforschender Bibliotheksmitarbeiter*innen allerdings ist – dies postuliert der Autor hier aufgrund von jahrelangem Austausch innerhalb dieser wachsenden Community – wo auch immer möglich die tatsächliche physische Rückgabe der im weiteren Sinne als geraubt bewerteten Objekte. Ein Grund hierfür ist sicherlich, dass gewisse Hürden, die insbesondere die Kunstrestitution bewältigen muss, in Bibliotheken i.d.R. entfallen – ganz konkret etwa, dass der monetäre Wert kaum eine Rolle spielt, man also im Zuge einer Buchrestitution selten in Kontakt mit Stakeholdern wie Auktionshäusern, Händlern oder Anwaltskanzleien kommt. Ein weiterer Grund ist, dass die untersuchten Objekte ihren unikalen Charakter als vormaliges Eigentum einer bestimmten Person, Familie, Organisation oder Einrichtung nur einem sehr kleinen Personenkreis offenbaren, der auch nur für diesen von Interesse ist. Das Werk an sich ist für die Bibliothek bei Bedarf ersetzbar – für Restitutionsempfänger*innen allerdings ist die Sache genau umgekehrt: Dass genau diese eine Person das Objekt besessen hat, ist von derartiger Relevanz, dass das Objekt selbst dahinter fast verschwindet.1

Provenienzforschende Bibliotheken haben noch einen weiteren Vorsprung gegenüber z.B. Kunstmuseen: Die Veröffentlichung von Forschungsdaten (hier üblicherweise Beschreibungen von Provenienzmerkmalen und Personendaten) ist zumeist uneingeschränkt möglich, auch in Fällen, die noch nicht ‚ausgeforscht‘ sind. Bezüglich Format, Umfang und Plattform gibt es zwar die oben erwähnten unterschiedlichen Ansätze in der (deutschsprachigen) Bibliothekswelt, aber dass veröffentlicht werden kann, zeigen ja schon diese unterschiedlichen Ansätze.2

Die Provenienzforschung, die seit ca. 20 Jahren an der Zentral- und Landesbibliothek Berlin (ZLB) erfolgt, hat die Wichtigkeit, die die Veröffentlichung von Provenienzdaten haben kann, bereits sehr früh und sehr direkt erfahren. 2009 gelang die Rückgabe eines geraubten Kinderbuches direkt an den ursprünglichen Eigentümer, Walter Lachmann. Dieser war durch einen Zeitschriftenartikel, in dem sein Buch und die enthaltene Widmung beispielhaft genannt wurde, mit der Bibliothek in Kontakt getreten.3 Die Erbenermittlung erledigte Walter Lachmann praktisch selbst für die Bibliothek. Dies war zu diesem Zeitpunkt ein wahrer Glücksfall, da die Bibliothek noch gar nicht mit der systematischen Überprüfung der Bestände und damit auch mit der Veröffentlichung der Forschungsdaten begonnen hatte.

Die Erfahrung, dass die als Ziel gesetzte Rückgabe auf diese Weise ungleich schneller erfolgen konnte, beeinflusste den kurz darauf folgenden Aufbau des Referats Provenienzforschung der ZLB nachhaltig in der Wahl der Publikationsmittel. Da noch keine geeignete Veröffentlichungsform vorhanden war, wurden zunächst einfache Namenslisten im PDF-Format erstellt und online gestellt. Dieses simple, aber wirkungsvolle Verfahren wurde kurze Zeit später von einer Datenbank abgelöst, die es den Mitarbeiter*innen ermöglicht, Forschungsdaten wie Autogramme, Widmungen, Exlibris und die zugehörigen Namen direkt nach deren Erfassung online zu veröffentlichen. Diese Datenbank bot die Grundlage für die 2014 ins Leben gerufene Kooperative Provenienzdatenbank Looted Cultural Assets (LCA). Der Gedanke einer gemeinsam genutzten Datenbank über Institutionsgrenzen hinweg bestand beim Entwickler Peter Prölß schon von Anbeginn.4

2. Offene Forschungsdaten werden genutzt

Seither weicht der Glücksfall immer mehr dem Regelfall. Mit die aktuellsten Beispiele sind die Exlibris von Ernst G. Preuß. Die ZLB hat in der LCA-Datenbank unter anderem die Exlibris-Sammlung der Berliner Stadtbibliothek veröffentlicht. Diese umfasst etwa 800 unterschiedliche Exlibris, i.d.R. ohne Hinweise auf die Bücher, aus denen die kleinen personalisierten Drucke und Stiche herausgelöst worden waren. Eines dieser Exlibris lautet auf den Namen Ernst Preuss. Auf diesem ist in der Mitte ein Dackel abgebildet, der auf einem Bücherstapel samt Degen thront. Etwas dahinter steht eine Statue, zwei Personen darstellend, eine Erwachsene und ein Kind, beim Schreiben oder Lesen. Im Hintergrund ein See mit Segelbooten und Sonnenuntergang. Das Exlibris ist rechts unten signiert mit „RBR“:5. Erstmals in die Datenbank aufgenommen wurde das Exlibris am 27. Dezember 2011. Der recht gewöhnliche Name und die nicht eindeutig einem Berufsfeld, einer bestimmten Region oder – etwa über ein Wappen – einer Familie zuzuordnenden Bildinformationen gepaart mit dem völligen Fehlen von Informationen zu Zugangsart und -datum schließen hier eine gezielte weitere Recherche zunächst aus. Das Exlibris ist zunächst natürlich auch nicht als NS-Raubgut bewertet – die Veröffentlichung in LCA erfolgt trotzdem.

Jahre später, im Oktober 2019, erhält die ZLB eine Zuschrift. Bei einem Flohmarktkauf in Berlin wurde ein Buch mit dem identischen Exlibris erstanden, das zusätzlich zu dem oben beschriebenen allerdings noch ein weiteres Exlibris von „Ernst und Grete Preuß“ enthält. Abgebildet ist auf diesem eine markante metallene Hängebrücke und im Hintergrund ein Gebäude mit Turm. Die Zuschrift endet mit „Vielleicht hilft Ihnen diese Information ja weiter, um die Person ein wenig näher zu bestimmen.“.

Zunächst erweist sich leider auch der Hinweis auf die vermutete Ehefrau Grete nicht als hilfreich genug, um die Identität von Ernst Preuß eindeutig zu bestimmen. Noch immer gibt es bei Schnellrecherchen in genealogischen Datenbanken zu viele mögliche Übereinstimmungen. Den Schlüssel liefert erst eine Anfrage bei den Provenienzforscher*innen des Deutschen Technikmuseums in Berlin. Die Brücke kann eindeutig als die ehemalige Hugo-Preuß-Brücke in Berlin-Mitte identifiziert werden. Benannt nach dem Politiker und Staatsrechtler Hugo Preuß (1860–1925) war sie 1933 in Admiral-Scheer-Brücke umbenannt und Ende des Zweiten Weltkrieges zerstört worden.6

Der vormalige Eigentümer des Exlibris‘ bzw. des auf dem Flohmarkt erstandenen Buches war nun relativ schnell klar: Hugo Preuß hatte mit Else Preuß geb. Liebermann vier Söhne: Kurt, Gerhard, Hans Helmuth und Ernst Gustav. Der letztgenannte wurde 1891 in Berlin geboren und war in erster Ehe mit Margarete Gran (1886–?) verheiratet. Ernst G. Preuß war ab 1921 Leiter der sozialpolitischen Abteilung der AEG in Berlin. In Deutschland war er ab 1933 als Jude verfolgt, 1937 konnte er sich mit seiner Familie nach Großbritannien retten und überlebte so den Holocaust. Er starb 1966 in London.7

Auch die Recherche nach Erb*innen ist nun möglich und erfolgreich. Es folgte eine Kontaktaufnahme inklusive Restitutionsangebot – sowohl vonseiten der Bibliothek als auch von der Privatperson. In diesem Fall wurde auf die tatsächliche Rückgabe schlussendlich auf Wunsch der Erb*innen verzichtet (die Exlibris waren, genau wie die Familiengeschichte, bereits bekannt), das Rückgabeangebot allerdings positiv gewürdigt.

3. Die Relevanz begreifen

Diese exemplarische, in großen Teilen typische Erfahrung zeigt bezogen auf eine erfolgreiche Provenienzforschung, die mit dem Ziel der Restitution durchgeführt wird, einige grundsätzlich leicht umzusetzende Grundsätze. Provenienzforschung kann ohne Vernetzung nicht funktionieren und dabei nicht ohne einen offenen Austausch von Informationen. Es geht dabei auch nicht ohne einen möglichst unbeschwerten Umgang mit den selbst erhobenen Forschungsdaten. Es geht nicht in erster Linie um die Objekte, es geht um Menschen. Provenienzforschung bewegt sich nicht in einem klar abgegrenzten historischen Kontext – ihre Ergebnisse haben unter Umständen ganz konkrete Auswirkungen auf Gegenwart und Zukunft. Und: Wenn man es richtig anstellt, haben die Ergebnisse der Provenienzforschung in der Regel für alle Beteiligten positive Auswirkungen: auf Erbinnen und Erben, auf Besitzerinnen und Besitzer, die Forschungscommunity und unsere Gesellschaft.

Insbesondere das Beispiel der Exlibris von Ernst G. Preuß zeigt aber auch: Provenienzforschung ist für Kultureinrichtungen keine temporäre Aufgabe, die innerhalb weniger Jahre in Projekten ‚abgeschlossen‘ werden kann. Sie ist kein Werkzeug, mit dem man sich eines „Problems“ entledigt. Sie muss vielmehr als unabdingbar für Bestandsaufbau und -vermittlung begriffen werden, und das ganz unabhängig von den Erwerbsumständen. Die Ausreden dafür, KEINE Provenienzforschung zu machen, sind bekannt, durchschaubar und leicht zu entkräften.8

Literaturverzeichnis

1 Zu den verschiedenen Bedeutungen, die insbesondere im Nationalsozialismus geraubte Bücher für verschiedene Gruppen haben (können), siehe Gallas, Elisabeth: Capsules of Time, Tradition and Memory. Salvaging Jewish Books after 1945, in: Gallas, Elisabeth; Holzer-Kawalko, Anna; Jessen, Caroline u.a. (Hg.): Contested Heritage: Jewish Cultural Property after 1945, Göttingen, 2020, S. 15–25. Online: <https://www.vr-elibrary.de/doi/pdf/10.13109/9783666310836>, Stand: 05.07.2021.

2 Einen guten Überblick zu den in der deutschsprachigen Bibliothekswelt genutzten Veröffentlichungsformen bieten Alker, Stefan; Bauer, Bruno; Stumpf, Markus: NS-Provenienzforschung und Restitution an Bibliotheken, Berlin/Boston 2017, S. 79–80.

3 o.A.: Walter Lachmann, Zentral- und Landesbibliothek Berlin, <https://www.zlb.de/fachinformation/spezialbereiche/provenienzforschung/restitutionen/walter-lachmann.html>, Stand: 05.07.2021.

4 Gerlach, Anette; Prölß, Peter: Forschungs-Verbunddatenbank „Provenienzforschung“, in: Bibliotheksdienst 46 (1), 2012, S. 15–22. Online: <https://doi.org/10.1515/bd.2012.46.1.15>.

5 o.A.: (Preuß, Ernst G.), Etikett: Exlibris, Name, Abbildung; ‚Ernst Preuss RBR‘. (Prototyp), Kooperative Provenienzdatenbank Looted Cultural Assets, <https://db.lootedculturalassets.de/index.php/Detail/objects/20770>, Stand: 05.07.2021.

6 Finsterwalder, Sebastian; Prölß, Peter; Weber, Elisabeth: Von Brücken und Büchern, Retour – Freier Blog für Provenienzforschende, 14.04.2021, <https://retour.hypotheses.org/1362>, Stand: 05.07.2021.

7 Irmer, Thomas: “There is no better cure for the German canker”. Ernst G. Preuss und die Lehren aus der deutschen Geschichte, in: Häntzschel, Hiltrud; Hansen-Schaberg, Inge; Glunz, Claudia u.a. (Hg.): Exil im Krieg 1939–1945, Göttingen 2016 (Krieg und Literatur XXII), S. 159–168.

8 Vgl. dazu eindrucksvoll: Stumpf, Markus: Warum es nicht funktioniert, keine NS-Provenienzforschung zu betreiben. Ein Bullshit-Bingo anlässlich 20 Jahre Washingtoner Prinzipien und Österreichisches Kunstrückgabegesetz, in: BuB 70 (10), 2018, S. 524–525. Online: <https://services.phaidra.univie.ac.at/api/object/o:907617/diss/Content/get>, Stand: 05.07.2021.