Datentracking in den Wissenschaften
Wissenschaftsorganisationen und die bizarre Asymmetrie im wissenschaftlichen Publikationssystem
Zusammenfassung
Das wissenschaftliche Publikationssystem ist in seinen Grundzügen nach dem Zweiten Weltkrieg entworfen und dann in die einmal eingeschlagene Richtung zum Nachteil der Wissenschaft und ihrer Bibliotheken weiterentwickelt worden. Im Ergebnis ist es inzwischen ein Quasi-Monopol mit allen Folgen für die Wissenschaft und ihre Bibliotheken. Die aktuellen Entwicklungen in Richtung Science Tracking vertiefen diese Monopolbildung noch weiter zu ihren Ungunsten. Der Beitrag zeichnet die Entwicklung zu einem asymmetrischen System des wissenschaftlichen Publizierens nach, analysiert die jüngsten Entwicklungen um das Datentracking über Bibliotheken und diskutiert Auswege aus der bizarren Situation des Publikationssystems.
Summary
The scientific publication system was designed in its basic features after World War II and then further developed in this direction to the disadvantage of the sciences and the academic libraries. As a result, scientific publishing has become a quasi-monopoly with all the consequences for the sciences and libraries. The current developments towards science tracking strengthen this monopoly even further to their disadvantage. The article traces the evolution towards an asymmetrical system of scientific publishing, analyses the latest developments around data tracking via libraries and discusses ways out of the bizarre situation of today’s publication system in the sciences.
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1. Eine sehr kurze Geschichte des wissenschaftlichen Publikationssystems
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sollte sich die Landschaft für das wissenschaftliche Publizieren grundlegend verändern, eine Veränderung, die eng mit einem Namen verbunden ist: Robert Maxwell.1 Maxwell zeigte vor mehr als einem halben Jahrhundert den vielfach von gelehrten Gesellschaften in Verbindung mit Verlagen publizierten Fachzeitschriften zunächst in Großbritannien neue Wege auf, um ihr Publikationswesen zu professionalisieren und in ein profitables Geschäft zu verwandeln. Maxwell war nicht primär an den Wissenschaften interessiert. Sein Ziel war es vielmehr Millionär zu werden, und ein Weg dahin führte für ihn über das wissenschaftliche Publikationswesen.2 Zusammen mit anderen ehemaligen Mitgliedern des britischen Geheimdienstes entwickelte er ein ökonomisch wie sachlich an das Wachstum der Wissenschaften angepasstes System von Zeitschriften, Reviews und Subskriptionsgebühren. Das Besondere an Maxwells Idee für dieses Publikationswesen war, dass der ökonomische Gewinn seines Subskriptionsmodells allein auf der Seite der Wissenschaftsverlage liegen, die Arbeit für die Zeitschriften aber von der Wissenschaft kostenlos erbracht und die Kosten ausschließlich auf der Seite der öffentlichen Hand liegen sollten.3
Was sich zunächst nach einer Verschwörungserzählung anhört,4 war jedoch nicht allein das Werk der Gruppe um Robert Maxwell. Schon seit den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts war der Hauptabsatzmarkt für die europäischen Verlage die USA,5 auch für Nachdrucke und Übersetzungen deutscher Publikationen für die amerikanische Rüstungsforschung,6 aber auch für Russland und Japan. Doch nach 1945 wechselte die Publikationssprache ins Englische und die vom internationalen Markt ausgeschlossenen deutschen Verlage mussten ausländische Verleger suchen, um wieder den Anschluss an den Markt zu finden.7 Springer fand einen solchen Verleger in Robert Maxwell. Amerikanische, kanadische und britische Verlage wie McGraw-Hill, Pergamon oder Blackwell begannen den Markt für wissenschaftliche Publikationen zu dominieren. Der Kalte Krieg brachte viel Geld in die Wissenschaften, die Zahl der Studierenden stieg weltweit an, die Haushalte für die Universitäten und ihre Bibliotheken wuchsen und das Publikationswesen wuchs mit ihnen.
Die Dynamik des Wissenschaftsbetriebs der Nachkriegszeit löste bei den Bibliotheken einen entsprechenden Orientierungsbedarf aus, denn diese konnten nur einen immer kleineren Teil aus der rasch größer werdenden Zahl der wissenschaftlichen Publikationen erwerben. Im Jahr 1955 schlug Eugene Garfield, zunächst nur für die Selbstorientierung der Bibliotheken, einen maschinell erstellten Zitationsindex vor.8 Dieser Index sollte helfen, die Auswahl der fachlich einschlägigen Zeitschriften durch die Bibliotheken zu verbessern. Angesichts der Ausweitung des Zeitschriften- und Lehrbuchmarktes,9 einem wachsenden Druck zum Publizieren, der sogenannten „Impact Factor Obsession“,10 und steigender Subskriptionsgebühren gewannen verschiedene Indizes für die Erwerbungen der Bibliotheken an Bedeutung auch für die Wissenschaft selbst. Spätestens als 1992 Thomsen Reuter den Index des Institute for Scientific Information (ISI) für mehr als 200 Millionen Dollar übernahm, war die Bedeutung der Analyse von Daten über die Wissenschaft und ihre Publikationen nicht mehr zu übersehen. Heute gehört das ISI unter dem Namen „Web of Science“ zu Clarivate Analytics. Das Unternehmen bietet Dienste für Universitäten, Verlage oder auch für Regierungen im Bereich vertiefter Datenanalysen an. Dies unterstreicht die Entwicklung hin zu einem professionalisierten, aber auch metrisierten System des wissenschaftlichen Publizierens. Die Analyse von Daten über die Wissenschaft ist für deren Selbststeuerung immer wichtiger geworden. Aus einem Bibliotheksindex ist eine Wissenschaftsmetrik geworden.
Die Metrisierung des Wissenschaftsbetriebs und seines Publikationswesens ging mit seiner Kommerzialisierung einher. Gewinnmargen an den Publikationsgebühren, die gegen Ende des 20. Jahrhunderts die bisherigen, schon hohen Gewinne aus den Subskriptionsgebühren überrundeten, trieben die Preise für das wissenschaftliche Publizieren immer weiter nach oben. Gewinnmargen von 30–50 % an einem Artikel, für den von den Verlagen beim Open-Access-Publizieren zwischen 4.000 und 10.000 Dollar verlangt werden, sind eine längst problematisch gewordene Selbstverständlichkeit des Wissenschaftsbetriebs heute. Dabei verursacht die Publikation auf arXiv.org dagegen nur etwa 10 bis 20 Dollar und die Publikation der Zeitschrift in einem Verlag, je nach Renommee der Zeitschrift, zwischen 200 und 1.000 Dollar an tatsächlichen Kosten.11 Die Folgen der Preissteigerungen, Zeitschriftenvermehrungen und Indizierungen waren schon vor der Jahrtausendwende nicht mehr zu übersehen. Die gestiegenen Kosten zwangen die Bibliotheken zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu teils radikalen Einschnitten. Die Kündigung des Lizenz-Vertrags zwischen der Max-Planck-Gesellschaft und Springer 2007 oder der Boykott der Elsevier-Zeitschriften durch die University of California in 2019 sind beispielhafte Reaktionen auf eine längst verfahrene Situation im wissenschaftlichen Publikationswesen.12 Versuche, die Asymmetrie zwischen den Interessen der Wissenschaft und denen der Verlage wieder fairer zu gestalten, bilden die Programme der Wissenschaftsorganisationen, eine Transformation Richtung Gold Open Access anzustoßen oder der DEAL-Verhandlungen in Deutschland, den Niederlanden oder der Schweiz, eine Lizenzierung der Publikationsangebote großer Verlage anzustreben, bei denen die Hochschulen die Kosten für die Publikation von Artikeln übernehmen.
Historisch ist diese Entwicklung hin zu einem inzwischen scharfen Interessensgegensatz von Buchhandel und Wissenschaft nicht zwingend gewesen, schließlich waren die ersten wissenschaftlichen Publikationen wie die Philosophical Transactions der Royal Society von ebendieser selbst als Auftrag an die Drucker in der damaligen Londoner Duck Lane vergeben, aber von der wissenschaftlichen Gesellschaft selbst verlegt worden. Ähnlich verlief es bei dem wenige Monate zuvor erstmals erschienenen Journal des Savants, für das der Gelehrte Denis de Sallo und nicht ein Verlag das königliche Privileg für den Druck erhalten konnte.13 Doch Modernisierung hieß auch im System der Wissenschaft und seiner Geschichte statt Selbstorganisation Ausdifferenzierung und Auslagerung von Funktionen, hier der Erbringung und der Distribution von Erkenntnissen in einem eigenen, ökonomischen System des Buchhandels. Von den Anfängen einer offenen Wissenschaftsgesellschaft ist wenig übriggeblieben. Aus der Schieflage der nach 1945 angestoßenen Entwicklung des wissenschaftlichen Publikationswesens resultiert eine Asymmetrie zwischen Buchhandel und Wissenschaft, deren Folgen für die Wissenschaftsgesellschaft nicht mehr zu übersehen sind.
2. Die Verstetigung der Konflikte zwischen Wissenschaftsverlagen und Wissenschaft und ihren Bibliotheken
Durchgesetzt hat sich in den letzten Dekaden ein verschärftes Maxwellsches Modell, das gar nicht versucht, seinen immer ausschließlicher profitorientierten Charakter zu verbergen, wonach Forschende durch Steuergelder bezahlt werden und die Forschenden selbst kostenlos für die Verlage arbeiten, die sich dann auch zugleich anhand der Zeitschriftenindizes gegenseitig bewerten, um am Ende für ihre Institute die eigenen Publikationen wieder teuer mit Steuergeld zurückzukaufen. Die Oligopol-Bildung im wissenschaftlichen Verlagswesen hat inzwischen einen enorm profitablen Wirtschaftszweig hervorgebracht, der immer mehr Geld dem Wissenschaftssystem entzieht. Das gilt nicht nur für Publikationsgebühren für elektronische Zeitschriftenaufsätze. Selbst kleinere Verlage haben verstanden, dass sie von einer frischgebackenen Doktorandin zehntausend Euro Druckkostenzuschuss verlangen können, das Fünffache der tatsächlichen Verlagskosten. Die Wissenschaftsverlagskonzerne wie RELX, Thomson Reuters oder Pearson, Springer Nature oder Wiley führen auch dank ihrer milliardenschweren Gewinnmargen das World Publishing Ranking zuverlässig an und das seit Jahren.14
Aus dieser hier nur gerafft referierten Entwicklung ist man gedrängt zu folgern, dass das Zusammenspiel zwischen Verlagswelt, den Wissenschaften und der Öffentlichkeit, wie es sich seit dem 19. Jahrhundert mit der Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft etabliert hat, in der Wissenschaftsgesellschaft des 21. Jahrhundert vielfach zur Disposition stehe. Die Digitalisierung ist dabei nur ein Faktor unter vielen, warum die Interessensgegensätze zwischen Wissenschaft und Verlagen aufeinanderstoßen. Wie bizarr der Konflikt spätestens zu Beginn des 21. Jahrhunderts geworden ist, benennt eine unverdächtige Quelle in diesem Streit, ein Investment-Bericht der Deutschen Bank aus dem Jahr 2005 mit dem sprechenden Titel „Turning the Supertanker“. Mit Supertanker sind die Großverlage und hier besonders RELX gemeint. Es heißt dort:
„[M]argins in the journals business [are] ‘extremely high’. One could argue that they are unjustifiably high - bluntly, we believe that the professional publishers add little value to the research process. We suggest that readers consider the margins (just momentarily) as taxpayers rather than investors. How happy are you, as taxpayers, that your governments are enabling private sector operators, with very little invented capital, to earn 40% operating margins? […] What the Open Access debate has done… is to refocus attention on the large margins made by commercial publishers, including REL[X], in the journals market. The industry structure can only be described as bizarre – the state funds most research, pays the salaries of most of those checking the quality of research (in peer review processes), and then buys most of the published product. This has been rather elegantly described as the ’triple-pay’ model. […] So from a public policy stance we could think instead about the ongoing capital requirement of the business. We know that the working capital requirement of the journals business is minimal (or in fact negative).“15
Das dreifache Bezahlsystem, die hohen Gewinnmargen und die eigentümlich geringen Kosten der Herstellung sind selbst aus Sicht der Analysten der Deutschen Bank nicht gerechtfertigt. Das System ist „bizarr“, so die Wortwahl der Deutschen Bank, um die Ökonomisierung des wissenschaftlichen Publizierens zu beschreiben. Es fehlt daher nicht an der seit vielen Jahren wiederholten Feststellung, dass das System des wissenschaftlichen Publizierens zerbrochen sei.16
3. Science Tracking als nächster Schritt in der Entwicklung eines Quasi-Monopols
Wenig hat sich seitdem geändert. Die Pfadabhängigkeit des einmal eingeschlagenen Wegs für das wissenschaftliche Publizieren hat wesentlich damit zu tun, dass der Buchhandel als Teil des Wirtschaftssystems im Medium des Geldes und die Wissenschaft im Medium der Wahrheit operieren, um es in der abstrakten Sprache der Systemtheorie zu sagen.17 Für eine offene Wissenschaftsgesellschaft sind solche Ausdifferenzierungen gesellschaftlicher Funktionssysteme nicht grundsätzlich problematisch, denn Wissen wird nicht weniger, wenn es geteilt und ökonomisch verwertet wird. Problematisch wird das Verhältnis aber dann, wenn die strukturelle Kontrolle über das Wissen entdifferenziert wird und das Wissenschaftssystem zu einem Subsystem des Wirtschaftssystems wird. Konkret ist damit gemeint, dass dann, wenn die Steuerung des Wissens von einem Oligopol weniger Verlage übernommen wird, die Autonomie der Wissenschaften gefährdet ist. Die Frage ist daher, ob wir bereits an diesem Punkt angelangt sind. Denn mit dem Science Tracking kommt ein weiteres Steuerungselement in die Hand der Wissenschaftsverlage, das die Balance zwischen Wissenschaft und Verlagen noch einmal zuungunsten der Wissenschaft verschiebt. Es wären dann die Verlage, die fast alles über die Wissenschaft wissen und zugleich das Wissen auf ihren Servern gespeichert haben.
Die Entdifferenzierung funktional getrennter Systeme ist das Ziel des Science Trackings. Wie Facebook für die soziale Kommunikation zielt das Science Tracking darauf ab, ein möglichst geschlossenes System entlang der Eigenlogik von Wirtschaftsunternehmen und ihres Mediums Geld zu etablieren. Es ist zu befürchten, dass sie damit die Steuerung der Wissenschaft immer mehr übernehmen,18 denn mit dem Science Tracking können Inhalte und Forschungsprimärdaten mit der Kontrolle über Institutionen und deren Steuerung verknüpft werden. Kritische Stimmen befürchten daher, dass mit dem Science Tracking das Wissen noch weiter privatisiert und unter wenigen globalen Unternehmen monopolisiert wird. Das kann niemand in einer Wissenschaftsgesellschaft ernsthaft wollen, außer denen, für die das ein einträgliches Geschäftsmodell ist.
Und doch setzt genau hier Science Tracking an, um die Asymmetrie weiter in Richtung einer Privatisierung und Monopolisierung des Wissens voranzutreiben. Wie der Beitrag von Renke Siems, der kürzlich in o-bib erschienen ist, im Detail beschreibt,19 ist es für die Wissenschaftsverlage von wachsendem Interesse, zu wissen, wer, wo und wie an welchen Forschungsfeldern arbeitet. Solches Wissen ist nicht nur für die Verlage, sondern auch für die Steuerung von Wissenschaften in den Universitäten weltweit als auch für die Industrie und Politik von wachsender Bedeutung. Es erweitert vor allem das Geschäftsmodell der Verlage vom Content Provider hin zum Data Analytics Business, eine generelle Tendenz aller digital operierenden Industrien, Umwelten zu bauen, die die User und Userinnen gar nicht mehr verlassen müssen. Dafür sind feste digitale Identitäten und ihre Nachverfolgbarkeit essenziell, wie auch Mark Zuckerberg bei der Vorstellung seines Metaverse erst jüngst betont hat.20 Das Tracking von Personen und ihres Verhaltens ist die Bedingung für das Metaverse der Zukunft, auch das der Wissenschaft. Die Funktionen der Data Analytics sind nicht nur für die Erweiterung des Geschäftsmodells hin zu einem Supertanker mit Superhäfen und Superzustellungssystemen der Wissenschaften ein zentrales Instrument,21 vielmehr sollen die Data Analytics auch mögliche konkurrierende Unternehmen vom Markeintritt abhalten, so dass andere, innovativere Modelle des wissenschaftlichen Publizierens gar nicht erst in Konkurrenz treten können. Mit diesen neuen Methoden der Data Analytics verbindet sich sehr konkret die strategische Erwartung, dass Schattenbibliotheken wie die 2011 von Alexandra Elbakyan gegründete Sci-Hub-Plattform geschlossen werden. Doch sind es die Schattenbibliotheken wie Sci-Hub, die es erst ermöglichen, dass gegenwärtig etwa in Großbritannien eine Einigung mit RELX auch scheitern könnte,22 ohne zugleich die Informationsversorgung der Wissenschaften zu sehr einzuschränken. Denn Sci-Hub ist faktisch längst eine zentrale Informationsinfrastruktur der Wissenschaften weltweit.23 Sie zu schließen würde daher unmittelbar die Verhandlungsmacht der Wissenschaften und ihrer Bibliotheken schwächen, liegt aber im Interesse der Wissenschaftsverlage.
Derzeit ist noch unklar, wie weit Konzept und Praxis des Science Trackings tatsächlich schon über die wissenschaftlichen Bibliotheken und Verlagsplattformen implementiert ist, gerade auch weil sehr fähige und mächtige Akteure wie Google, Facebook und die Advertising Technology insgesamt hierbei mehr oder minder eingebunden zu sein scheinen. Die Details des Zusammenwirkens dieser Institutionen genauer zu verstehen, ist eine der anstehenden Aufgaben. Ein Positionspapier der Deutschen Forschungsgemeinschaft zum Science Tracking24 hat auf die mit ihm verbundenen Gefahren aufmerksam gemacht und scharfe Reaktionen auf der Seite der Verlage ausgelöst. Die ersten Gespräche zwischen der Deutschen Forschungsgemeinschaft und den drei Großverlagen über Praxis und Ausmaß des Science Trackings haben noch kein für alle Seiten verlässliches Bild über sein Ausmaß ergeben. Die Irritationen sind auf beiden Seiten erheblich. Aus Sicht der wissenschaftlichen Informationsversorgung ist besonders sensitiv, ob Hochschuleinrichtungen eventuell gegen europäisches Datenrecht verstoßen, wie es etwa im Schrems II-Urteil des Europäischen Gerichtshofs formuliert wurde, oder auch gegen das Recht auf informationelle Selbstbestimmung wie das Recht auf Wissenschaftsfreiheit, indem sie bei dieser Umstellung auf Data Analytics unfreiwillig mitmachen. Das ist jedenfalls eine der Sorgen der mehr als tausend europäischen Kolleginnen und Kollegen, die den Aufruf „Stop Tracking Science“ inzwischen unterzeichnet haben.25 Weitere Positionspapiere zum wissenschaftlichen Publikationswesen sind durch verschiedene Institutionen bereits für die nächsten Monate angekündigt.
4. Die Rolle der Wissenschaftsorganisationen
Wissenschaftsorganisationen und Bibliotheksverbände und -verbünde sind die öffentlich legitimierten Interessensvertreter, um für die Wissenschaft und ihre Bibliotheken die Stimme zu erheben, damit die offene Wissenschaftsgesellschaft nicht nur eine Sonntagsphrase bleibt. Die Reservoirfunktion der Bibliotheken und ihre Treuhänderschaft für verlässliches Wissen sind die alten, schon im 17. Jahrhundert von Francis Bacon und anderen Gründungsvätern der modernen Wissenschaft beschriebenen Aufgaben.26 Sie gelten trotz der Ausdifferenzierung von Funktionen und Rollen im Wissenschaftssystem unverändert auch heute noch. Freilich haben sich die Machtverhältnisse seit der Etablierung des Maxwellschen Modells zuungunsten der Bibliotheken und der Wissenschaft verschoben. Keine der Wissenschaftsorganisationen oder Bibliotheksverbände und -verbünde verfügt auch nur annährend über Kapital und institutionelle Ausstattung, um in diesem Konflikt mit den Großverlagen auf Augenhöhe zu operieren. Auf der anderen Seite jedoch verfügen die Wissenschaftsorganisationen über die moralische Autorität, ja mehr noch, sie vertreten diejenigen, die die Forschung durchführen, die Reviews schreiben und die, die am Ende die Käufer und Käuferinnen der Produkte sind. Damit haben die Wissenschaftsorganisationen sehr viele Karten in ihren Händen, jedoch in vielen, nicht unbedingt konzertiert zusammenwirkenden Händen. Allein die Abstimmung im europäischen Raum etwa über so nützliche Einrichtungen wie Knowledge Exchange27 ist aufwändig. Ähnliches gilt für die Abstimmung in der Allianz der deutschen Wissenschaftsorganisationen. Erreicht werden konnte schon, dass in den bald anstehenden Verhandlungen der DEAL-Verträge auf einen verbindlichen Ausschluss des Science Trackings bestanden werden wird. Im Jahr 2022 laufen die ersten DEAL-Verträge aus, mit RELX konnte noch kein Vertrag geschlossen werden. Zudem sind schon erste Gespräche mit europäischen Wissenschaftsorganisationen geführt worden, um die Schlagkraft der Forschungsorganisationen zu erhöhen. Denn die ihnen gegenüberstehenden Großverlage sind ihrerseits international operierende Unternehmenszusammenschlüsse, gegenüber denen nationale Entscheidungen nicht unbedingt ins Gewicht fallen. Noch fehlen detaillierte Analysen, welche Transformation des wissenschaftlichen Publizierens im Allgemeinen und des Science Tracking im Besonderen gegenwärtig vonstatten geht. Hier hat die Wissenschaftsseite ein Informationsdefizit und kann entsprechend nur defensiv mit den Verlagen sprechen. Genauere Analysen des Science Trackings sind daher notwendig.
Doch wird das alles so nicht genügen. Wir sind auch aufgefordert, über die Wissenschaftsorganisationen die Politik zu adressieren, um auf europäischer Ebene die Interessen der Wissenschaft in den Prozess der Umsetzung des Digital Markets Act bzw. des Digital Service Acts einzubringen.28 Auch hier steckt der Teufel im Detail, da Instanzen identifiziert werden müssen und Lobbyismus betrieben werden muss, so wie er auch von Seiten der Verlage betrieben wird. Die jüngste Empfehlung des Wissenschaftsrats, dass wissenschaftliche Publikationen nach Veröffentlichung „sofort, dauerhaft, am ursprünglichen Publikationsort und unter einer offenen Lizenz (CC BY) frei verfügbar“29 gemacht werden sollten, geht in die Richtung, die Interessen der Wissenschaften gegenüber den Verlagen wieder einzufordern und das öffentlich.
Am schwierigsten und doch am vielversprechendsten wäre es, analog zum gerade gefundenen Agrarkompromiss durch die Zukunftskommission Landwirtschaft,30 eine Zukunftskommission der Transformation des wissenschaftlichen Publizierens zu etablieren. Auf die Zukunftskommission Landwirtschaft kann verwiesen werden, weil es auch hier um sehr viel Geld ging und geht, nationales und europäisches Recht und Förderpolitik einzubeziehen waren, die Akteure und Interessensgruppen höchst asymmetrisch - was ihre Interessen und ihre Machpositionen betrifft - in diesen Prozess eingestiegen sind und dennoch am Ende einen Kompromiss gefunden haben. Ein Publikationskompromiss müsste neue Akteure bzw. Marktteilnehmer einbeziehen, also auch die Schattenbibliotheken. Es ist dabei klar, dass das jährlich von den deutschen Hochschulen aufgebrachte Geld für wissenschaftliches Publizieren längst dazu ausreicht, ein eigenes System aufzubauen und zu finanzieren,31 so schwierig die Kalkulation der Kosten im Einzelnen auch ist.32 Der radikale Vorschlag für einen „Plan S“,33 einer grundlegenden Transformation des wissenschaftlichen Publikationswesens in Europa hin zu einem offenen System, zeigt die Richtung an. Von hier aus ist weiter zu denken.
Dinge ändern sich nicht deshalb, weil viele unzufrieden sind und unfaire Geschäftsmodelle das Miteinander von Verlagen und Wissenschaften bestimmen. Sie ändern sich, weil wir in unseren Hochschulen und Bibliotheken, Wissenschaftsorganisationen und Bibliotheksverbänden dafür arbeiten. Dafür brauchen wir einen langen Atem in einer längst schon bizarren Publikationslandschaft der Wissenschaften.
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5 Sarkowski, Heinz: The Growth and Decline of German Scientific Publishing, in: Einar H. Frederiksson (Hg.): A Century of Science Publishing. A Collection of Essays, Amsterdam 2001, S. 25–34.
6 Sarkowski, Heinz: Amerikanische Nachdrucke deutscher Wissenschaftsliteratur während des Zweiten Weltkriegs, in: Buchhandelsgeschichte 3 (1987), S. 97–103.
7 Götze, Heinz: Springer Verlag. History of a Scientific Publishing House. Part 2: 1945–1992, Heidelberg 1996.
8 Garfield, Eugene: Citation Indices for Science. A New Dimension in Documentation through Association of Ideas, in: Science 122 (1955), S. 108–111. Online: <https://www.science.org/doi/10.1126/science.122.3159.108>; vgl. auch Cronin, Blaise; Atkins, Helen B. (Hg.): The Web on Knowledge. A Festschrift in Honor of Eugene Garfield, Medford 2000.
9 Tenopir, Carol; King, Donald: The Growth of Journal Publishing, in: Cope, Bill; Phillips, Angus (Hg.): The Future of the Academic Journal, Oxford 2014, 2. Auflage, S. 159–178.
10 Hicks, Diana; Wouters, Paul; Waltmann, Ludo; de Ricke, Sarah; Rafols, Ismael: Bibliometrics. The Leiden Manifesto for Research Metrics, in: Nature 520 (2015), S. 429–43. Online: <https://www.nature.com/articles/520429a>; vgl. auch Colquhoun, David: How to get Good Science, in: Physiology News 69 (2007), S. 12–14. Online: <https://www.researchgate.net/publication/287772256_How_to_get_good_science>, Stand: 21.02.2022; Brembs, Björn; Button, Katherine; Munafò, Marcus: Deep Impact. Unintended Consequences of Journal Rank, in: Frontiers in Human Neuroscience, 24.06.2013. Online: <https://doi.org/10.3389/fnhum.2013.00291>.
11 Grossmann, Alexander; Brembs, Björn: Current Market Rates for Scholarly Publishing Services, F1000 Research, 2021, 10:20, Version 2, <https://doi.org/10.12688/f1000research.27468.2>.
12 Vgl. z.B. den Aufruf von Peter Walter und Keith Yamomoto für einen Boykott von Cell-Journalen in 2003: Call for Boycott of Cell Press Journals , Liblicense, 20 Oct 2003, <http://liblicense.crl.edu/ListArchives/0310/msg00048.html>, Stand: 21.02.2022.
13 Kronick, David: A History of Scientific and Technical Periodicals. The Origins and Development of the Scientific and Technical Press 1665–1790, New York 1962, und Kronick, David: Scientific and Technical Periodicals of the Seventeenth and Eighteenth Century, Metuchen 1991.
14 Wischenbart, Rüdiger: Global 50 Ranking of the International Publishing Industry, 2021, <https://leanderwattig.com/store/the-global-50-world-publishing-ranking-rwcc-2021/>, Stand: 21.02.2022.
15 Deutsche Bank AG: Reed Elsevier: Moving the Supertanker, Company Focus. Global Equity Research Report, 11.01.2005, S. 34 und 37; vgl. auch Klein, Samuel: Turning the Supertanker. Deutsche Bank on Elsevier’s excess, in: Knowledge Futures Group, 05.08.2019. Online: <https://notes.knowledgefutures.org/pub/supertanker/release/3>, Stand: 21.02.2022.
16 Z.B. Konkiel, Stacy; Piwowar, Heather; Priem, Jason: The Imperative for Open Altmetrics, in: The Journal of Electronic Publishing 17 (3), 2014. Online: <https://doi.org/10.3998/3336451.0017.301>.
17 Jäger, Georg: Buchhandel und Wissenschaft. Zur Ausdifferenzierung des wissenschaftlichen Buchhandels, Siegen 1990 (LUMIS 26). Online: <http://www.iasl.uni-muenchen.de/discuss/lisforen/Jaeger_Wiss_Buchhandel.pdf>, Stand: 21.02.2022.
18 Benedikt, Kristin; Schwartmann, Rolf: Im Drachenblut des Digitalen. Facebook und Google machen es vor: wie große Verlage in Zukunft die Wissenschaft steuern, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.08.2021, S. N 4.
19 Siems, Renke: Das Lesen der Anderen. Die Auswirkungen von User Tracking auf Bibliotheken, in: o-bib. Das offene Bibliotheksjournal 9 (1), 2022, S. 1–25. Online: <https://doi.org/10.5282/o-bib/5797>.
20 Newton, Casey: Mark in the Metaverse, in: The Verge, 22.07.2021. Online: <https://www.theverge.com/22588022/mark-zuckerberg-facebook-ceo-metaverse-interview>, Stand: 21.02.2022.
21 Vgl. Schonfeld, Roger C.: The Supercontinent of Scholarly Publishing?, in: The Scholarly Kitchen, 03.05.2018. Online: <https://scholarlykitchen.sspnet.org/2018/05/03/supercontinent-scholarly-publishing/>, Stand: 21.02.2022.
22 McKie, Anne: Deadline Looms as UK Universities Reject Elsevier Deal, in: Times Higher Education, 29.10.2021. Online: <https://www.timeshighereducation.com/news/deadline-looms-uk-universities-reject-elsevier-deal>, Stand: 21.02.2022.
23 McKenzie, Lindsay: SciHub’s cache of Pirated Papers is so Big, Subscription Journals are Doomed, Data Analyst Suggests, in: Science, 27.07.2017. Online: <https://www.science.org/content/article/sci-hub-s-cache-pirated-papers-so-big-subscription-journals-are-doomed-data-analyst>, Stand: 21.02.2022; Neuer Rahmenvertrag für subito.: Verlage und Bibliotheken profitieren, in: Börsenblatt, 01.03.2019. Online: <https://www.boersenblatt.net/archiv/1614255.html>, Stand: 21.02.2022.
24 Deutsche Forschungsgemeinschaft: Datentracking in der Wissenschaft, Aggregation und Verwendung bzw. Verkauf von Nutzungsdaten durch Wissenschaftsverlage. Ein Informationspapier des Ausschusses für Wissenschaftliche Bibliotheken und Informationssysteme der Deutschen Forschungsgemeinschaft, 28.10.2021. Online: <https://www.dfg.de/download/pdf/foerderung/programme/lis/datentracking_papier_de.pdf>, Stand: 21.02.2022.
25 Stop Tracking Science, 2022, <https://stoptrackingscience.eu/>, Stand: 21.02.2022.
26 “The works touching books are two — first, libraries, which are as the shrines where all the relics of the ancient saints, full of true virtue, and that without delusion or imposture, are preserved and reposed; secondly, new editions of authors, with more correct impressions, more faithful translations, more profitable glosses, more diligent annotations, and the like.” (Bacon, Francis: The Advancement of Learning, Oxford 1605. Online: <https://classic-literature.co.uk/francis-bacon-the-advancement-of-learning/>, Stand. 21.02.2022, Bd. 2, Abs. 5).
27 Knowledge Exchange, <https://www.knowledge-exchange.info/>, Stand: 21.02.2022.
28 Europäische Kommission: The Digital Services Act Package, <https://digital-strategy.ec.europa.eu/en/policies/digital-services-act-package>, Stand: 21.02.2022.
29 Wissenschaftsrat: Empfehlung zur Transformation des wissenschaftlichen Publizierens zu Open Access, 24.01.2022, <https://www.wissenschaftsrat.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/PM_2022/PM_0222.html>, Stand: 21.02.2022.
30 Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft: Zukunftskommission Landwirtschaft, 06.01.2022, <https://www.bmel.de/DE/themen/landwirtschaft/zukunftskommission-landwirtschaft.html>, Stand: 21.02.2022.
31 Europäische Kommission (Hg.): Study on the economic and technical evolution of the scientific publication markets in Europe. Final Report January 2006, Brüssel 2006. Online: <https://op.europa.eu/en/publication-detail/-/publication/1058c2f8-5006-4d13-ae3f-acc6484623b9>, Stand: 21.02.2022; vgl. auch zu den steil ansteigenden Kosten Kopp, Hans: Die Zeitschriftenkrise als Krise der Monographienbeschaffung, in: Bibliotheksdienst 34 (11), 2000, S. 1822–1827, bzw. Larivire, Vincent; Haustein, Stefanie; Mongeon, Philippe: The Oligopoly of Academic Publishers in the Digital Era, in: PLoS ONE, 10 (6) 2015, S. e0127502. Online: <https://doi.org/10.1371/journal.pone.0127502>, und jüngst auch Grossmann, Alexander; Brembs, Björn: Current Market Rates for Scholarly Publishing Services, F1000 Research, 2021, 10:20, <https://doi.org/10.12688/f1000research.27468.2>.
32 Frick, Claudia; Kaier, Christian: Publikationskosten für Zeitschriftenartikel abseits von Open-Access- Publikationsfonds – Lost in Transformation?, in: o-bib 7 (2), 2020. Online: <https://doi.org/10.5282/o-bib/5586>.
33 Plan S. Making full and immediate Open Access a reality, cOAlition S, <https://www.coalition-s.org/>, Stand: 21.02.2022.