Aufgabenspektrum Fachreferat: Ein Arbeitsgebiet im Wandel

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

die digitale Transformation der Wissenschaften in Forschungspraxis und Publikationskultur schlägt sich auch in der Diskussion über Ausrichtung und Zielsetzung von wissenschaftlichen Bibliotheken nieder. Die Vehemenz und Relevanz dieser Entwicklung spiegelt sich in den „Empfehlungen zur Transformation des wissenschaftlichen Publizierens zu Open Access“ des Wissenschaftsrates1 sowie im Positionspapier „Forschungsunterstützung an Bibliotheken“ der VDB-Kommission für forschungsnahe Dienste2 wider: Gefragt sind sowohl digitale Kompetenzen und Services als auch die Ausrichtung bibliothekarischer Dienstleistungen an den Bedarfen der Wissenschaft.

Die rasante Veränderungsdynamik, die von den Empfehlungen und vom Positionspapier aufgegriffen wird, wirkt insbesondere in jenen Aufgabenbereich hinein, in dem das Bibliothekswesen per definitionem wissenschaftsnah wird: dem Fachreferat, das schon seit Jahren den Spagat zwischen klassischem Profil und neuen Herausforderungen leistet und Anforderungen aus der Theorie in die Praxis übersetzen muss. Deutlich wurde der Beitrag der Fachreferate zum Beispiel mit der Vielzahl an Fachreferent*innen, die an der Konzeption und der Etablierung von Fachinformationsdiensten beteiligt waren und sind.

Das Ineinandergreifen von Fachreferatsarbeit und forschungsnahen Diensten war der Anlass für eine Kooperation der beiden VDB-Kommissionen für Fachreferatsarbeit und für forschungsnahe Dienste. Wo werden neue Services inhaltlich und organisatorisch verortet, welche Auswirkungen haben die aufkommenden Bedarfe aus der Wissenschaft auf die klassischen Fachreferatstätigkeiten? Wie ändert sich das Selbstverständnis von Fachreferentinnen und Fachreferenten und inwieweit nehmen Fachreferentinnen und Fachreferenten den Bereich der forschungsnahen Dienste mehr und mehr als Kerngeschäft wahr?

Um diese Fragen zu diskutieren, veranstalteten beiden Kommissionen auf dem Bibliothekartag 2021 gemeinsam eine gut besuchte Podiumsdiskussion zum Thema: „Academic Support – wie forschungsnah ist Ihr Fachreferat?“.3 Die dort vertretenen Positionen vertieften den Eindruck, dass die Ansichten darüber, was mit dem Begriff „Fachreferat“ gemeint ist, kaum noch auf einen Nenner zu bringen sind. Das entspricht dem, was auch in bibliothekarischen Publikationen und Standortbestimmungen immer wieder anzutreffen ist: Mit auffallender Konstanz wurde die Fachreferatsarbeit in der Fachdiskussion thematisiert, totgesagt oder mit veränderten Aufgabenstellungen propagiert (z.B. Oehling 19984, Schröter 20125, Bonte 20146, Siebert/Lemanski (Hg.) 20147, Tappenbeck 20158, Trefas 20189).

In Anlehnung an diese Diskussionen und die sich mit Fortschreiten der Digitalisierung auch im Bibliothekswesen ergebenden Herausforderungen und Chancen auch für Fachreferent*innen und ihre Services haben die beiden VDB-Kommissionen für Fachreferatsarbeit und für forschungsnahe Dienste gemeinsam dazu eingeladen, dieses Themenschwerpunktheft mit Veröffentlichungen zu – im weitesten Sinne – forschungsnahen Dienstleistungen im Fachreferat zu füllen.

Jenseits aller programmatischen Äußerungen zum Berufsbild gibt es nur wenige empirische Betrachtungen der Fachreferatsarbeit – die letzten ausführlicheren Darstellungen sind in die Jahre gekommen und die jüngeren Beiträge zum Thema bilden die Vielfalt der Positionen und praktischen Tätigkeitsbereiche in ihrer Dynamik nur teilweise ab. Der Themenschwerpunkt will einen Beitrag dazu leisten, diese Lücke zumindest zum Teil zu schließen. Im Ergebnis werden so die vielfältigen Aktivitäten unterschiedlicher Fachreferent*innen an unterschiedlichen Einrichtungen und in diversen Konstellationen präsentiert: Es gibt Beiträge zu Themen wie agiles Projektmanagement, Öffentlichkeitsarbeit, Digital Humanities, insbesondere zur Unterstützung beim Einsatz digitaler Methoden in den Geisteswissenschaften, zu Forschungsdatenmanagement (FDM) und der Zusammenarbeit verschiedener Fachreferate. Ein Fokus liegt dabei auf der Erweiterung von IT-Kompetenzen sowie den Möglichkeiten für Fachreferent*innen, ihre Kompetenzen weiterzuentwickeln und an ihren Bibliotheken und angegliederten Forschungseinrichtungen einzubringen.

Im Einzelnen gehen die Beiträge auf die folgenden Themen ein:

Einen strategischen Ansatz für Änderungen im Tätigkeitsprofil von Fachreferent*innen stellt ein Team von Autor*innen der Universitätsbibliothek Duisburg-Essen (Christina Kläre, Dorothee Graf, Anke Petschenka et al.) mit dem Beitrag „Fachreferat plus X. Transformation des wissenschaftlichen Dienstes an der Universitätsbibliothek Duisburg-Essen“ dar. Der Beitrag erläutert, wie neue Services, die Fachreferent*innen zunächst als Projektaufgaben übernehmen, organisatorisch eingebunden sind. Die Angebote werden teils innerhalb der bestehenden Fachreferate als zusätzliche Aufgabenbereiche integriert, teils führen sie jedoch auch zur Einrichtung neuer Querschnittsreferate oder sogar neuer Organisationseinheiten, die dann die weitere Betreuung der Services als Hauptaufgabe verantworten.

Einen Blick darauf, wie man die Tätigkeiten und Aufgaben von Fachreferent*innen transparenter und bekannter machen kann, vermittelt Viola Voß (Universitäts- und Landesbibliothek Münster) mit ihrem Beitrag „Einblicke in den Bibliotheksalltag: #Fachreferatsfreitag“. Sie stellt vor, wie Fachreferent*innen unter gleichlautendem Hashtag wöchentlich seit 2020 bei Twitter Fachkenntnis und Engagement unter Beweis stellen.

Im Artikel „Look what we’ve got for you! Promoting library collections“ zeigen Viola Voß (Universitäts- und Landesbibliothek Münster) und Göran Hamrin (KTH Royal Institute of Technology Sweden), wie Bibliotheken aus verschiedenen Ländern ihre Nutzerinnen und Nutzer über Neuerwerbungen informieren, und beleuchten, wie digitale Tools oder Social Media das klassische Aufgabengebiet der Bestandsinformation und -bewerbung verändern.

Mit Blick auf die Informationsmanagement-bezogenen Fachreferatsaufgaben im Zuge des Forschungsdatenmanagements thematisiert ein Team von Autor*innen der Universitätsbibliothek der Ludwig-Maximilian-Universität München (Benjamin Auberer, Alexander Berg-Weiß, Vanessa Gabriel et al.) die Notwendigkeit zur fachwissenschaftlichen Selbstvergewisserung der Fachreferent*innen. Angeheftet an einen Exkurs in die Berufsbilddebatte vergangener Tage zum Fachreferat werden in ihrem Beitrag „Potentiale nutzen und Verbindungen herstellen. Neue fachliche Aufgabenbereiche für Bibliotheken am Beispiel Forschungsdatenmanagement“ gegenwärtige Tätigkeitsfelder von Fachreferent*innen aufgezeigt und es wird – getrieben durch die „Datafizierung“ der Wissenschaft – das FDM als neues Handlungsfeld für Fachreferent*innen skizziert. Dabei wird die strukturelle Verankerung dieser Aktivitäten in Bibliotheken und Hochschulen ebenso angemahnt wie die nötige Zuarbeit von Fachreferent*innen in zwei entscheidenden Handlungsfeldern: einerseits beim Netzwerken und Verankern von FDM in der Wissenschaft und andererseits beim aktiven Einbringen von erhobenen Bedarfen der Wissenschaft in die Bereiche und Initiativen, die FDM-Services aufbauen und bereitstellen.

Der Artikel „Library Inventory Statistics Application – Eine Fallstudie über die agile Projektarbeit im Rahmen des Fachreferats“ von den Autor*innen Sascha Bosse, Christine Lücke und Linda Thomas (Universitätsbibliothek der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg) beleuchtet, wie durch die Mitarbeit von Fachreferent*innen in agiler Projektarbeit die Perspektiven anderer Bereiche innerhalb der Universität – z.B. Studium, Lehre, Forschung und Wissenschaftsverwaltung – einfließen. Dazu wurde zunächst der IST-Zustand eines Revisionsprozesses evaluiert, um dann unter Einbeziehungen der Fachreferent*innen eine Digitalisierung des Prozesses zu realisieren. Die Akzeptanz der im Projekt entwickelten Services wurde durch die frühe Einbindung der Fachreferent*innen verbessert und ein gegenseitiges Lernen hat stattgefunden.

Im Beitrag „Keine falsche Scheu: Wie geisteswissenschaftliche Fachreferate von den Digital Humanities profitieren können“ von Swantje Dogunke (Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena), Lydia Koglin (Universitätsbibliothek der Universität der Künste Berlin) und Timo Steyer (Universitätsbibliothek der Technischen Universität Braunschweig) geht es um das Zusammenspiel von Fachreferat und Digital Humanities. Ein besonderer Fokus liegt hier auf den digitalen Kompetenzen, die die Autor*innen durch ihre Vorbildung und Erfahrungen in den Digital Humanities in die Fachreferatsarbeit einfließen lassen.

Ein Team von Autor*innen der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek (SUB) Göttingen (José Calvo Tello, Michael Czolkoß-Hettwer, Julia Mimkes) berichtet im Beitrag „Kooperative Fachreferate. Eine offene Toolbox für den Bestandsaufbau“ aus der SUB Göttingen, wie aus verschiedensten Datenquellen Titel semi-automatisiert selektiert werden. Das Beispiel zeigt aus Sicht der Autor*innen die Notwendigkeit von Aus- und Weiterbildungsangeboten im Bereich der IT-Kenntnisse für Fachreferent*innen, gleichzeitig aber auch die Vorteile einer Kooperation von IT-Spezialist*innen und Fachreferent*innen.

Die Beiträge des Themenschwerpunkts machen nicht nur die Vielfalt des erforderlichen fachwissenschaftlichen Wissens deutlich, sondern zeigen auch die Breite der Kenntnisse, die im Bereich Informationsmethodik und Management von Fachreferent*innen und anderen Mitarbeitenden des wissenschaftlichen Dienstes in Bibliotheken erwartet werden. Kaum jemand wird das gesamte Spektrum dieser Kenntnisse vollständig und in der wünschenswerten Tiefe abdecken können – weder in einem einzelnen Fach noch über Fächergrenzen hinweg. Stattdessen ist Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit gefordert, um innerhalb der eigenen Institution, aber auch über Institutionsgrenzen hinweg, Formen der Zusammenarbeit zu entwickeln und forschungsnahe Dienste und Dienstleistungen zu realisieren. Die Beiträge dieses Heftes geben hierfür vielfältige Anregungen und zeigen zum Teil auch prototypische Lösungen auf.

Mit diesem Themenschwerpunkt führt o-bib die bewährte Tradition einer thematischen Zusammenarbeit mit einzelnen Kommissionen des VDB weiter. In den vergangenen Jahren haben die so entstandenen Themenschwerpunkthefte von o-bib interessante Fachdiskussionen aufgegriffen, vertieft und durch wertvolle Impulse weiterentwickelt. Wie auch bei diesem Heft wäre dies ohne die tatkräftige und dankenswerte Unterstützung durch die Kommissionsmitglieder als Fachgutachter*innen nicht möglich gewesen. Ihnen möchten wir explizit für ihr Engagement danken.

Neben den Beiträgen des Themenschwerpunkts bietet das Heft 2/2022 von o-bib natürlich auch noch weitere interessante Fachbeiträge, Berichte und Rezensionen – lassen Sie sich überraschen!

Für die Kommission für Fachreferatsarbeit des VDB
Jana Mersmann

Für die Kommission für forschungsnahe Dienste des VDB
Caroline Leiß

Für das o-bib-Team
Heidrun Wiesenmüller und Achim Oßwald

Zitierfähiger Link (DOI): https://doi.org/10.5282/o-bib/5827

Dieses Werk steht unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 4.0 International.

1 Wissenschaftsrat: Empfehlungen zur Transformation des wissenschaftlichen Publizierens zu Open Access, Köln 2022.
Online: <https://doi.org/10.57674/fyrc-vb61>.

2 Stille, Wolfgang; Farrenkopf, Stefan; Hermann, Sibylle u.a.: Forschungsunterstützung an Bibliotheken. Positionspapier der Kommission für forschungsnahe Dienste des VDB, in: o-bib 8 (2), 2021, S. 1–19. Online: <https://doi.org/
10.5282/o-bib/5718
>.

3 Academic Support – wie forschungsnah ist Ihr Fachreferat? Podiumsdiskussion auf dem 109. Bibliothekartag in
Bremen am 16.06.2021. Abstract unter <https://dbt2021.abstractserver.com/program/#/details/sessions/150>, Stand: 26.04.2022.

4 Oehling, Helmut: Wissenschaftlicher Bibliothekar 2000 – quo vadis? 12 Thesen zur Zukunft des Fachreferats, in:
Bibliotheksdienst 32 (2), 1998, S. 247–254. Online: <https://doi.org/10.1515/bd.1998.32.2.247>.

5 Schröter, Marcus: Fachreferat 2011. Innenansichten eines komplexen Arbeitsfeldes, in: Bibliothek Forschung und Praxis 36 (1), 2012, S. 31–49. Online: <https://doi.org/10.1515/bfp-2012-0005>.

6 Bonte, Achim: Der Wissenschaftliche Dienst in der Digitalen Bibliothek. Was kommt nach dem Fachreferentensystem? Vortrag zur Veranstaltung „Berufsbild Wissenschaftliche(r) Bibliothekar(in) heute“ in Frankfurt am Main am 30.09.2014 (Folienpräsentation). Online: <http://de.slideshare.net/Achim_Bonte/der-wissenschaftliche-dienst-in-der-digitalen-bibliothek-was-kommt-nach-dem-fachreferentensystem-39650127>, Stand: 26.04.2022.

7 Siebert, Irmgard; Lemanski, Thorsten (Hg.): Bibliothekare zwischen Verwaltung und Wissenschaft. 200 Jahre Berufsbilddebatte, Frankfurt am Main 2014 (Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie, Sonderband 111).

8 Tappenbeck, Inka: Fachreferat 2020: from collections to connections, in: Bibliotheksdienst 49 (1), 2015, S. 37–48. Online: <https://doi.org/10.1515/bd-2015-0006>.

9 Tréfás, David: Das Fachreferat: vom Universalgelehrten zur Schwarmintelligenz, in: Bibliotheksdienst 52 (12), 2018,
S. 864–874. Online: <https://doi.org/10.1515/bd-2018-0103>.