In Licht getaucht: Digitale Medienkompetenz bringt Bibliotheken in Bewegung
Bericht zum „Tagtool-Lab – Digitale Licht-Graffitis in der Bibliothek“
Einführung: Tagtool im Bibliothekskontext
Wenn Wände und Objekte mit digitalem Lichtgraffiti beleuchtet und animiert werden, dann verwandelt sich ein Raum temporär zur interaktiven Bühne bzw. zum Mitmach-Kino. Mit der App Tagtool 1 kann jede*r mit Linien und Formen Geschichten entwerfen und diese in Gemeinschaft mit anderen weiterentwickeln.2 Ihren Nutzen und die vielfältigen Einsatzmöglichkeiten auf dem Feld der digitalen Medienkompetenzvermittlung sowohl für die Zielgruppe Kinder und Jugendliche als auch für Erwachsene hat die Stadtbibliothek Bremen im letzten Jahr in Zusammenarbeit mit Urbanscreen3 sowie mit verschiedenen Künstler*innen und Illustrator*innen in den eigenen Räumen erprobt.4 Im Hands-on Lab „Tagtool-Lab – Digitale Licht-Graffitis in der Bibliothek“ ging es zum einen darum, den Teilnehmenden die gewonnen Erfahrungen aus vorangegangenen Tagtool-Projekten und die Besonderheiten der App aufzuzeigen. Zum anderen wurden Praxisbeispiele aus der Stadtbibliothek Bremen vorgestellt.
Die Kreativapp Tagtool ist ein digitales Zeichenwerkzeug, mit dem im ersten Schritt abstrakte Formen oder Figuren wie beispielsweise gezeichnete Menschen, Tiere, Pflanzen, Maschinen animiert werden können. In einer gemeinsamen Tagtool-Session wird jedes iPad zum visuellen Live-Instrument, indem der Entstehungsprozess der Zeichnung auf den jeweiligen iPads der Session-Teilnehmer*innen auch zeitgleich über eine Beamerprojektion sichtbar wird. Zeichnungen und Animationen werden von verschiedenen iPads in Echtzeit auf eine Wand übertragen. Durch Dialog und Interaktion der Session-Teilnehmer*innen entsteht ein Gesamtbild bzw. -Film.
Der kreative Fluss von Ideen wird in der Umsetzung nicht ausgebremst, denn das digitale Werkzeug mit der Farbpalette, den Löschinstrumenten und den verschiedenen Ebenen, auf denen Formen in Bewegung gebracht werden können, lässt Spontanität wie beim analogen Arbeiten zu. Während des kreativen Prozesses kann die Vorstellungskraft der Akteur*innen immer wieder intuitiv in die Entwicklung einwirken. Beispielsweise kann durch die Funktion „Duplizieren“ schnell und unkompliziert aus einem Baum ein Wald geschaffen werden, ohne dass mühselig wie es mit Papier und Bleistift der Fall wäre hunderte von Bäume einzeln gezeichnet werden müssten. Auch können Bewegungsfolgen problemlos geändert werden, indem man mit dem einen Finger den Aufnahmeknopf drückt und mit dem anderen eine neue Bewegung auf dem iPad vorgibt. Der Vorteil dieses Aufnahmeknopfs ist ein wesentlicher Unterschied zur traditionellen Animationstechnik (vgl. Daumenkino, Zeichentrickfilm), die sehr aufwendig ist und konzeptionelles, stundenlanges Zeichnen erfordert. Denn bei der „klassischen“ Art der Produktion von laufenden Bildern bedarf es 12 Bilder pro Sekunde, damit eine Bewegungsassoziation im Auge der Betrachtenden entstehen kann. Ein weiterer Unterschied zum traditionellen Trickfilm ist, dass die Tagtool-Filme der Logik des Loops folgen. So gibt es keine lineare Erzählung von A bis Z, sondern der Handlungsstrang wiederholt sich ab dem Punkt endlos, nachdem die Aufnahmespur einmal geendet hat.
Wer sich mit der App beschäftigt, wird schnell feststellen, dass Tagtool nach dem Prinzip der Marionettentechnik funktioniert.5 Das bedeutet, dass eine Figur in einzelne Stücke zerlegt werden muss. Die einzelnen Glieder der Figur können auf verschiedenen Ebenen animiert und am Ende sogar gruppiert und als Ganzes in Bewegung gesetzt werden. Neben der intuitiven Arbeitsweise gibt es also auch das planerische Vorgehen. Das heißt, beim Erfinden der Figuren muss im Vorfeld beispielsweise überlegt werden, welche Körperteile sich wie bewegen sollen, damit sie entsprechend auf bestimmte Ebenen gesetzt werden. Später lassen sich die Bildelemente auf den verschiedenen Ebenen problemlos je nach Wunsch in Bewegung bringen.
Die Skills, die aus der Beschäftigung mit Tagtool gewonnen werden können, stärken die digitale Medienkompetenz. Viele Kenntnisse der Filmentwicklung und -konzeption wie auch Grundlagen zur Grafikerstellung, die leicht auch auf andere Bildbearbeitungsapps übertragen werden können, können sich die Nutzenden aneignen. Grundsätzlich kann der Umgang mit der App damit sowohl für Kinder und Jugendliche als auch für Erwachsene mit Interesse für Bildmedien und ihre Wirkung gewinnbringend sein. Nicht zuletzt die Möglichkeiten der Stärkung von digitaler Medienkompetenz lässt es für die Bremer Bibliothek reizvoll erscheinen, Tagtool-Workshops anzubieten. Mit diversen Angeboten für unterschiedliche Zielgruppen versucht sie auch ihrem Bildungsauftrag gerecht zu werden, und die digitale Teilhabe an der Gesellschaft im Kleinen zu unterstützen. Darüber hinaus hat die App noch weiteres Potential, das für die Vermittlungsarbeit einer Bibliothek reizvoll sein kann. Gemeint sind hier die vielfältigen Verknüpfungsmöglichkeiten zu anderen Medien und Themen in der Ausleihe. Die Stadtbibliothek Bremen beispielsweise hat mit dem Künstler Jeff Hemmer animierte Comics mit Tagtool erstellt oder auf der Explore Science7 2022 in Bremen Flora und Fauna im Amazonas thematisiert.
Praxisübung: Interdisziplinäres Spiel mit Tagtool
Im Hands-on Lab wurde gemeinsam eine Collage erarbeitet, in der anthropomorphe Figuren entwickelt wurden. Das Konzept wurde bereits in der Stadtbibliothek Bremen mit dem Künstler Johan Büsen umgesetzt und kommt fortan in verschiedenen Variationen zum Einsatz. Als Grundlage dienten auch in dem Hands-on Lab Bücher aus der Ausleihe zu den Disziplinen Kunst und Mode. Jede*r Teilnehmer*in suchte sich ein Motiv seiner Wahl aus und fotografierte es mit der App ab. Die Hauptfigur wurde aus dem Hintergrund freigestellt. Auf neuen Ebenen konnten tierische Elemente aufgetragen werden. Die Teilnehmenden animierten nach dem Marionettenprinzip einzelne Motivstücke. Die Figur sollte, nachdem alle Ebenen gruppiert wurden, abgespeichert werden. In diesem ersten Teil der Praxisphase konnten sich die Teilnehmenden mit der für sie überwiegend neuen App vertraut machen. Es wurde zu zweit am iPad gearbeitet, so dass gegenseitig Hilfestellung gegeben werden konnte. Sobald das Prinzip mit den verschiedenen Ebenen einmal verstanden war, entstanden bei den Akteur*innen erste Animationen und einer ersten Figur folgte schnell die zweite. Auch den „Kunst-Muffeln“ gefiel nach eigener Aussage diese praktische Übung, denn mit Hilfe der Collagetechnik entstanden, auch ohne ein Zeichengenie sein zu müssen, lustige und grafisch überzeugende Figuren, die den eigenen ästhetischen Ansprüchen genüge taten.
Nachdem die Tagtool-Session eröffnet wurde, projizierten die Teilnehmenden ihre Figuren mit auf die Wand und „komponierten“ gemeinsam das Bild, solange bis sich eine Geschichte aus den Collagen erstellen ließ: Ein Schweinchen im Tutu tanzt zu den rhythmischen Gitarrenklängen von Elvis, wobei sie von einem Kater im blauen Kostüm neckisch umkreist wird. Vor einer niederländischen Stadtkulisse genießen eine dämonenhafte Gestalt und eine Zebra-Lady den Flair von etwas Copacabana (s. Palme), während die Dame am Schachbrett gerade feststellt, dass der letzte Cocktail wohl zu viel des Guten gewesen ist. Hier wurde ein weiterer Methodenzweig „Kreatives Schreiben“ aufgezeigt, dem aus Zeitgründen im Hands-on Lab aber nicht weiter nachgegangen wurde. Als alle mit dem Ergebnis zufrieden waren, wurde zum Schluss der Loop zur Dokumentation aufgenommen und per Mail an alle verschickt.
Beim Abschlussgespräch war den Workshop-Teilnehmenden die Begeisterung für die App in den Augen abzulesen. Erste Ideen für Tagtool-Angebote für Jugendliche, die sich in den Bibliotheken mit den Themen Graffiti bzw. Urban Art vernetzen lassen, wurden angesprochen. Auch für das Vorhaben, die Kreativapp als Sprachanlass im Rahmen von Angeboten für Geflüchtete zu nutzen, gab es erste Gedankenansätze.
Ausblick: Für die Verbreitung des Tagtool-Fiebers
in Bibliotheken
Erfahrungen aus Workshops dieser Art in der Stadtbibliothek Bremen haben gezeigt, dass die Teilnehmenden mit der Motivation gerne etwas zeichnen zu wollen in die Bibliothek kommen, aber auch, weil sie eventuell schon das digitale Arbeiten mit der App kennen und mit anderen Nutzer*innen zusammen spielen wollen. In diesem Zusammenhang ist die Bibliothek in ihrer Funktion als dritter Ort relevant. Die Workshop-Leitung kann die Veranstaltungen dazu nutzen, um mit verschiedenen Themen auf das vielfältige Ausleihangebot hinzuweisen, in dem es eine kleine Auswahl an Medien bereitstellt, um dieses als Arbeitsmaterial zu verwenden. An dieser Stelle sei hier auf Workshops in der Stadtbibliothek Bremen mit dem Illustrator Mario Ellert und der Künstlerin Ayumi Yoshikawa mit Kindern und Jugendlichen verwiesen, bei denen z.B. Bücher aus dem Themenbereich Weltall verwendet wurden und Aliens oder Raketen durch den Raum flogen. Ein anderes Mal wurde der Lebensraum von Tieren recherchiert und diese grafisch dargestellt. Auch auf einem Barcamp für Lehrende wurden bereits Tagtool-Konzepte zum Thema Insekten vorgestellt.
Die Möglichkeiten von Tagtool in der Stadtbibliothek Bremen sind noch lange nicht alle ausgereizt. Tagtool-Touren mit dem Bibliotheksfahrrad wie auch spezielle Medienkompetenz-Projekte in Kitas sind in Planung. Und wer weiß, vielleicht treffen sich in naher Zukunft auch die Bibliotheken zu Tagtool-Sessions außer Haus, um auf diesem Weg neue Methoden der digitalen Medienkompetenzvermittlung zu erproben.8 Tagtool bringt die Bibliotheken in Bewegung, wenn sie Aspekte wie Interaktivität, Interdisziplinarität und Kommunikation spielerisch mit ihren Ausleihmedien verbinden wollen.
1 Tagtool wurde 2006 von OMA International entwickelt. Heute lässt sich die Kreativapp, mit der mit mehreren
Leuten in gemeinsamen Sessions digital gezeichnet, animiert und ein Lichtbild an die Wand projiziert werden kann, über den Apple Store des iPads herunterladen. Benötigt wird hierfür die Version iPadOS 11.0 oder eine neuere.
Es gibt eine kostenfreie Basisversion. Um alle Funktionen nutzen zu können, muss die Pro-Version erworben werden.
2 Dieser Beitrag berichtet über das Hands-on Lab „Tagtool-Lab – Digitale Licht-Graffitis in der Bibliothek“ am 25.05.2023 anlässlich der 111. BiblioCon in Hannover.
3 Das freie Künstlerkollektiv Urbanscreen organisiert interdisziplinäre Medienkunstprojekte. Das Kreativunternehmen in Bremen bringt beispielsweise Bereiche wie Medienkunst, 3D-Design, Architektur, Kulturwissenschaft, Sound-Design und Medientechnik zusammen. Online: <https://www.urbanscreen.com/>, Stand: 01.08.2023.
4 Durch die Förderung im Rahmen des Programms „WissensWandel“ (Online: <https://www.bibliotheksverband.de/foerderprogramm-wissenswandel>) konnte das Projekt Fr3iraum durchgeführt werden. Workshops und Mitmachaktionen zu Tagtool war einer der drei Schwerpunkte, die durch den dbv unterstützt wurden. Online: <https://fr3iraum.de/>, Stand: 01.08.2023.
5 Der Audiovisuelle Künstler VJ Suave geht in seinem Online-Tutorial „Digitales Malen und Live-Animation mit TagTool“ genauer auf diese Besonderheit ein.
6 Eigene Darstellung inspiriert durch: <https://lichtgestalten-tagtool.org/wp-content/uploads/2020/01/149551_413709492042644_1237457672_n.jpg>, Stand: 01.08.2023.
7 Die naturwissenschaftlichen Erlebnistage Explore Science werden seit 2006 von der Klaus Tschira Stiftung organisiert und gefördert. Ziel ist es mit jährlich wechselnden Mottos das Interesse bei Kindern und Jugendlichen an naturwissenschaftlichen Themen zu wecken und die Vernetzung von wissenschaftlichen Einrichtungen und Schulen zu fördern. Online: <https://www.explore-science.de>, Stand: 01.08.2023.
8 Als mögliche Inspiration für alle Kreativköpfe unter den Bibliothekar*innen seien hier beispielgebend die Projekte des brasilianischen New Media Art Duos VJ Suave genannt, die ein Live-Visual Jam in São Paulo mit gleichzeitiger Beteiligung von Künstler*innen aus Brasilien, Uruguay, England und Österreich im öffentlichen Raum erlebbar machten oder auch nachts mit dem Fahrrad mit Tagtool Zeichnungen und Animationen an die Häuserwände brachten. Online: <https://vjsuave.com/>, Stand: 01.08.2023.