Medien an den Rändern: Wo fangen die Ränder an, wo hören sie auf? Wie die Arbeit in Öffentlichen Bibliotheken aktiv unterstützen?
Bericht zum Hands-on Lab
Einleitung
Bibliotheken stehen für eine pluralistische, offene Gesellschaft ohne Zensur.1 „Um dem Anspruch der Meinungs- und Informationsfreiheit gerecht zu werden, müssen wissenschaftliche Universalbibliotheken und Öffentliche Bibliotheken in ihrem Bestand und den über sie zugänglichen Informationsräumen dafür Sorge tragen, dass die konkurrierenden Welterklärungsmodelle angemessen, d.h. proportional zu ihrer Bedeutung und zur Bibliotheksgröße vertreten sind.“2 Diese Ansprüche haben zur Folge, dass die Bestände auch die Meinungsvielfalt der Gesellschaft bei umstrittenen Themen und den Medienmarkt mit seinen qualitativ unterschiedlichen Produkten widerspiegeln. So geraten Medien zu Verschwörungstheorien, politischen Thesen am rechten oder linken Rand, zur alternativen Medizin oder auch religiös-esoterische Publikationen immer wieder in den Fokus, ob im Augenblick des Bibliotheksbetrieb, im Rahmen einer Veranstaltung oder in der öffentlichen Debatte. Im Einzelfall bedarf es einer sachlichen und bibliotheksethischen Abwägung, welche Medien im Spannungsfeld zwischen der im Grundgesetz verankerten Informations- und Meinungsfreiheit, Demokratieförderung, der gebotenen Neutralität und begrenzten Erwerbungsressourcen für Bibliotheken relevant sind, selbst wenn sie keinem Faktencheck Stand halten oder sogar Hass und Hetze verbreiten. Viele Bibliotheken wünschen sich dabei Unterstützung.
Aus diesem Grund wurde 2019/2020 von BIB und Lektoratskooperation das Netzwerk Medien an den Rändern (MadR) gegründet.3 Seit 2020 wurden verschiedene Veranstaltungen an den Bibliothekartagen angeboten.4 In den ersten Jahren stand die Einordnung einzelner Titel bzw. Rezensionen zu fragwürdigen Publikationen im Mittelpunkt. Im letzten Jahr sind diese Anliegen seltener geworden, dafür rücken andere Themen in den Fokus. Angriffe auf Bibliotheksbestände sowie kritische Anfragen und Forderungen durch Nutzer*innen oder Politiker*innen, bestimmte Medien aufzunehmen oder zu entfernen, kommen vermehrt vor, ebenso wie die Unsicherheit bei der Veranstaltungsplanung zu kontroversen Themen.
Um dem Diskussions- und Lösungsbedarf der Community gerecht zu werden, wählte das Netzwerk MadR für die Veranstaltung auf der BiblioCon Hannover 2023 die Methode World-Café.5 Mit den Teilnehmenden der Veranstaltung – es kamen ca. 60 Personen –, sollte erarbeitet werden, welche konkreten Themen und Fragen die bibliothekarische Fachwelt umtreiben, wo Unsicherheiten entstehen und wie man ihnen begegnen kann. Wie können Bibliotheken den demokratischen Diskurs fördern? Ist Neutralität eher hilfreich oder gar gefährlich? Soll eine „Demokratie-Klausel“ in das Bestandsprofil aufgenommen werden? Diese und andere Fragen sollten dem Plenum helfen, das weitere Arbeitsfeld zu definieren. Auch die Arbeitsweise des Netzwerkes sollte unter die Lupe genommen werden: Wie kann fokussierter agiert und gearbeitet werden?
Die Teilnehmenden, zu denen auch Gäste der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin (MBR) gehörten, brainstormten an den Stationen des World-Cafés zu den vier Fragen:
- Wo entstehen Unsicherheiten im Umgang mit Medien und Veranstaltungen?
- Wie fördern wir den demokratischen Diskurs?
- Wie gelingt Kontextualisierung?
- Welche Hilfestellung kann das Netzwerk Medien an den Rändern geben?
Im Folgenden werden die Ergebnisse zusammengefasst.
Unsicherheiten im Umgang mit Medien und Veranstaltungen
Bibliotheken wollen ein offener, sicherer Raum sein, in dem eine gesellschaftliche Debatte stattfinden kann. Es besteht ein Spannungsfeld, in dem die Bibliothek ein Safe Space sein und eine diverse, offene Atmosphäre schaffen möchte, das Personal selbst aber unsicher ist, z.B. im diskriminierungsfreien Umgang mit marginalisierten Gruppen wie People of Color (PoC). Wie wichtig dieser Safe Space für die Bürgerschaft ist, wurde an mehreren Stellen betont. Es wurde die Frage aufgeworfen, inwiefern Politiker*innen diesen von der Bibliothek einfordern können. Dafür muss der Safe Space klar umrissen sein. Handelt es sich um einen möglichst diskriminierungsfreien oder um einen neutralen Ort, der Diskursräume für Menschen unterschiedlicher Meinungen öffnet und lediglich auf die Einhaltung demokratischer Spielregeln und Höflichkeitsformen achtet? Zu diesem Spannungsfeld passt auch der latente Vorwurf einer Cancel Culture, die Diskursräume einschränkt. Das Umfeld der einzelnen Einrichtungen beeinflusst den Diskursraum. Gibt es verfeindete politische Lager? Gab oder gibt es z.B. Vorfälle oder Zusammenstöße mit Reichsbürger*innen oder Extremist*innen?
Fehlende Transparenz der institutionellen Bestandspolitik sorgt gegenüber Mitarbeiter*innen und Nutzer*innen für Verunsicherung. Was hilft dagegen? Die Aussage „wir haben kein Geld für ihren Anschaffungsvorschlag“ ist nur ein Scheinargument, das sich z.B. durch Mediengeschenke schnell entlarven lässt. Eine transparente Bestandspolitik mit roten Linien zahlt sich für alle Seiten aus. So kann argumentativ Vorwürfen von Zensur oder der Verschwendung von Steuergeldern begegnet werden. Wichtig ist hier die Unterscheidung zwischen der institutionellen Position und der persönlichen der oder des Mitarbeitenden. Rahmen und Grundlage für die Bestands- bzw. Bibliothekspolitik kann die im Grundgesetz verankerte Informationsfreiheit oder einer der bibliothekarischen Ethikkodizes sein. Die Formulierung eines Diversity-Kodex für die Bibliothek macht sich bezahlt, da alle Bereiche des Bibliothekslebens von Diversitätsfragen berührt werden (können).
In der Veranstaltungsarbeit ist die ausreichende Bereitstellung von Ressourcen für eine gute Vorbereitung wichtig. Dabei sollten sowohl die Umstände als auch das Umfeld analysiert werden, um gegebenenfalls mit Störungen umgehen zu können. Eine gut vorbereitete, ggf. professionelle Moderation und die Einbeziehung externer Partner*innen hilfreich. So können auch Sicherheitsbedenken von Mitarbeitenden ernst genommen und es kann angemessen darauf reagiert werden.
Die Frage, ob es ein Recht auf Ignoranz gibt, wurde aufgeworfen. Dabei blieb offen, ob dieses Recht einen Schutz vor Erfahrungen einschließen würde.
Einige Beispiele für einzelne umstrittenen Medien oder Personen, die in den letzten Jahren Verunsicherung auslösten:
- „Jedes Kind kann schlafen lernen“ / Annette Kast-Zahn: Diskussion über die Schwarze
Pädagogik6 - Bestsellertitel wie die Jahrbücher „verheimlicht – vertuscht – vergessen“ von Gerhard
Wisnewski - Xavier Naidoo
- Unverlangt zugeschickte Medien der Scientology-Church-Verlagshäuser New Era
Publications und Bridge Publications 7 - Ausstellung mit Titeln der Comic-Reihe „Yakari“ für Leseanfänger – Diskussion um klischeehafte, diskriminierende Darstellungen der indigenen Bevölkerung Nordamerikas
- Mangas und Comics mit gewaltverherrlichendem Inhalt
- Aufforderungen, Medien von Attila Hildmann, Rammstein, Michael Jackson u.a. aus dem Bestand zu nehmen
Beispiele für Verunsicherungen bei der Veranstaltungsarbeit:
- Die Interaktion zwischen Gruppen unterschiedlicher Meinungsspektren, z.B. zwischen Palästinenser-Initiativen und israelischen/jüdischen Gemeinschaften
- Bei als kontrovers geltenden Personen oder Themen kann es notwendig werden, dass Veranstaltungen unter Polizeischutz durchgeführt werden sollten. Es kann schwierig sein, Personal für eine solche Veranstaltung zu finden, da die Themen Grundwerte berühren oder Ängste vor Anfeindungen o. ä. auslösen, so z.B. Lesung einer jüdischen Gemeinde, eines Travestiekünstlers oder einer Abtreibungsärztin bzw. eines Abtreibungsarztes.
- Veranstaltungen können durch mutwillige Störer*innen sabotiert werden. In einem Fall konnte die Einmischung einer Gruppe Rechtsradikaler nicht unterbunden werden, sodass der gastgebenden Bibliothek keine Alternative blieb und die Veranstaltung beendet werden musste. In diesem Zusammenhang wurde diskutiert, ob Einlassvorbehalte dazu dienen können, solche Vorkommnisse zu vermeiden.8
Den demokratischen Diskurs fördern
Was heißt neutral sein?9 Nach einhelliger Meinung bedeutet Neutralität in Bibliotheken nicht „anything goes“. Auf Verbandsebene, in der Kommune und in der Institution, nicht zuletzt im Bibliotheks-Team sollte der Begriff Neutralität diskutiert und definiert werden.10
Die Teilnehmenden bekräftigten, dass es für Bibliotheken unabdingbar ist, sich als demokratiefördernd zu positionieren, transparent zu handeln, mit Expert*innen und Partner*innen zusammen zu arbeiten und Allianzen zu bilden. Sie sollten offensiv „heiße“ gesellschaftliche Themen aufgreifen, auf deren Kontroversität hinweisen, aufklärende Veranstaltungen anbieten und eine Diskurs-Kultur etablieren.
Aufgaben im Vorfeld sind:
- die Stärkung des Problembewusstseins im eigenen Haus
- die Fähigkeit stärken, Meinungsvielfalt souverän zu begegnen
- Fortbildungen zu Kommunikationsthemen, Techniken für konfrontative Situationen etc. ermöglichen
- Schutzkonzept für die Mitarbeiter*innen, z.B. im Umgang mit aggressivem Feedback
- Umgang mit kontroversen Titeln im Bestand definieren
- Entwicklung von Veranstaltungskonzepten z.B. sog. Lebendige Bücher („Sprich mit deinem Vorurteil“)11
So gelingt Kontextualisierung
Kontextualisieren bedeutet allgemein, dass ein Thema, eine Person oder Sache in Beziehung zu anderen Inhalten gesetzt wird, um den Zusammenhang darzustellen.
Im Fall von Medien an den Rändern würde es bedeuten, Inhalte, Verlag oder Person in einen größeren
Kontext zu stellen, Aussagen einzuordnen, in Frage zu stellen oder zu widerlegen mit dem Ziel, Nutzer*innen die Möglichkeit zu geben, Aussagen zu hinterfragen und ggf. zu dekonstruieren. Kontextualisierung wird immer wichtiger, da Diversität in der Gesellschaft und ihre Abbildung im Medienbestand die Bibliothek in Erklärungsnot führen kann.
Es besteht die Möglichkeit, über einen ausgewogenen, die verschiedenen Positionen in der Gesellschaft proportional wiedergebenden Bestand zu kontextualisieren. Eine andere ist es, eng an einzelnen Titeln zu bleiben und die Kontextualisierung am Werk, im Katalog oder in der Präsentation vorzunehmen (enge Kontextualisierung). Die dritte Möglichkeit ist, über Veranstaltungsarbeit zur Festigung demokratischer Strukturen beizutragen (weite Kontextualisierung).
Ziel dieses Themen-Tisches im Rahmen des World-Cafés war es, Kriterien und Beispiele für eine gute
Kontextualisierung von Medien herauszuarbeiten, um Bibliotheken mehr Handlungsspielräume zu eröffnen.
Dabei wurde zunächst der Unterschied zwischen der Kontextualisierung von Kinder- und Erwachsenenmedien herausgearbeitet. So sollten Kinder vor traumatisierenden oder ausgrenzenden Erfahrungen geschützt oder gewarnt werden, vor allem, wenn sie noch nicht in der Lage sind, diese zu hinterfragen. Daher können Kinderbuchklassiker oder -comics wie Tim im Kongo z.B. mit einer Triggerwarnung gesondert gekennzeichnet werden. Sollten sie in einen für Kinder nicht so leicht zugänglichen Teil der Bibliothek versetzt werden, da die unreflektierte Lektüre schädlich sein kann? Kinder und Erwachsene lesen unterschiedlich. Es gab eine Diskussion, inwiefern Kinder durch Stereotypen und Vorurteile bzw. fehlende Repräsentanz ihrer selbst in Kinderbüchern in ihrer Entwicklung beeinflusst werden können.
Im Folgenden geht es in erster Linie um Medien für Erwachsene.
Enge Kontextualisierung
Die enge Kontextualisierung am einzelnen Titel kann z.B. durch ein Label wie „Vorsicht“ oder „diskriminierend“ gestaltet werden. Es würde die Aufmerksamkeit auf den Titel lenken, was eine ungewollte werbende Wirkung haben könnte. Für Erwachsene als mündige Denker*innen kann der Eindruck einer Bevormundung entstehen – andererseits kann ein Label auch die notwendige Triggerwarnung sein, wenn z.B. vor Gewalt, sexualisierter Sprache oder anderen retraumatisierenden Bestandteilen des Titels gewarnt wird.
Eine weitere Möglichkeit ist das Einfügen zusätzlicher Informationen über einen QR-Code oder einen kurzen Text im oder auf dem Werk. Das können ein Hinweis auf die Bestandspolitik der Bibliothek sein, eine Rezension, Hintergrundinformationen oder eine Medienliste mit Titeln, die die gesamte Vielfalt oder andere Positionen spiegeln. Daraus ergab sich die Frage, wer überhaupt kontextualisieren kann – Bibliothekar*innen, Expert*innen oder Mitglieder von marginalisierten Gruppen. Die dafür erforderlichen Kenntnisse über Medien und Strukturen des Verlagswesens sind zumindest in den Bibliotheken vorhanden, die noch Lektorate bzw. Fachreferate haben. Wer wählt die jeweiligen Medien aus? Wenn Informationen außerhalb der Website gespeichert werden: Wer überprüft regelmäßig, ob diese inhaltlich und formal weiterhin der Bestandspolitik entsprechen?
Es wurde angeregt, eine regelmäßige Evaluation der Kontextualisierungen durchzuführen, ähnlich der des Bestandes. Dies kann im Umkehrschluss aufgrund des Bedarfs an Personalressourcen jedoch dazu führen, dass sehr allgemein, z.B. durch das Leitbild, kontextualisiert wird und nur wenige Titel betroffen sind. In Öffentlichen Bibliotheken ist der Produktlebenszyklus von Sachbüchern z.B. zu Trendthemen zwischen 24 und 60 Monate. Eine Evaluation der Kontextualisierung entfällt, wenn die Medien aufgrund der geringen Nachfrage makuliert werden.
Ein gelungenes Beispiel für Kontextualisierung ist ein Hinweis auf einen anderen historischen oder soziokulturellen Kontext, z.B. durch Label oder QR-Code bei Standardwerken oder klassischer Literatur aus anderer Zeit.
Bei der Präsentation von umstrittenen Werken in Ausstellungen gingen die Meinungen auseinander. Eine Fokussierung könne das Interesse an kontroversen Titeln ggf. erst wecken und Titel, die qualitativ eigentlich mehr Aufmerksamkeit verdienten, in den Hintergrund drängen. Um die Vielfalt von Meinungen im Regal aufzuzeigen, bieten sich Platzhalter und Medienlisten mit zusätzlichen Quellen, ggf. QR-Codes für Links zum Discoverysystem an. So kann der Eindruck vermieden werden, dass Bibliotheken keinen ausgewogenen Bestand präsentieren, falls gerade viele Medien einer Richtung ausgeliehen sind.
Weite Kontextualisierung
In der Debatte wurde betont, dass sich der Erfolg von demokratiefördernden Veranstaltungen nicht in deren Teilnehmerzahl bemisst, sondern in ihrer Qualität. Sie sollten in erster Linie partizipative Elemente haben und sollten auch Spaß machen dürfen.
Als Beispiele wurden Coffee Lectures genannt, die gleichzeitig von Nutzer*innen und Kolleg*innen genutzt werden können. Autor*innen können beispielsweise zu ihren Publikationen befragt werden. Eine weitere Idee: Ein Fake News-Salon oder eine Nachrichten-Werkstatt, in der Nachrichten zugeordnet und gegenrecherchiert werden.
Für einzelne Veranstaltungen sollten sich Bibliotheken mit Kooperationspartner*innen vernetzten und so auch mehr Pluralität in ihr Haus holen. Das kann sich gerade bei Themen und Personengruppen bezahlt machen, denen die Mehrheit der Gesellschaft kaum Aufmerksamkeit schenkt bzw. die Berechtigung für eine eigene Meinung oder Identität abspricht.
Es ist schwierig, Menschen außerhalb der angestammten Nutzendenkreise der Bibliothek zu erreichen. Hierfür kommt die aufsuchende Bibliotheksarbeit, z.B. kleine Präsentationen oder Veranstaltungen in Cafés oder der Volkshochschule, in Betracht.
- Formate wie „Dafür“ - „Dagegen“, in deren Verlauf zu Themen, die den Stadtteil oder einzelne Gruppen bewegen, Stimmungsbilder eingeholt werden können.
- Kleine Diskussionsveranstaltungen, Abstimmungen oder ein Quiz über Social-Media-Tools erfordern nur wenige Ressourcen, sofern eine minimale Kontrolle gewährleistet bleibt, dass die Boards nicht von Störern infiltriert werden.
Eine weite Kontextualisierung des Bestandes kann durch die Veröffentlichung von Erwerbungsrichtlinien oder Leitbildern stattfinden, wenn anhand von Beispielen der Aushandlungsprozess dargestellt wird und Nutzer*innen für die schwierigen Entscheidungen sensibilisiert werden. Die Bibliothek kann dort ihre roten Linien aufzeigen oder zur Diskussion stellen. Ein Abstimmungsprozess für umstrittene Kaufentscheidungen bleibt jedoch schwierig, wenn Nutzer*innen der Auftrag ihrer Bibliothek nicht zugänglich ist.
Das Fazit des Tisches: Egal, für welche Maßnahme sich eine Bibliothek entscheidet, es ist wichtig anzufangen, auch mit kleinen Schritten.
Hilfestellungen durch das Netzwerk MadR
Unter dieser Fragestellung wurden konkrete Bedarfe festgestellt, für die das Netzwerk Hilfestellungen entwickeln könnte. Es wurde angeregt, die Gruppe MadR als Vernetzungspunkt auszubauen und ein stärkeres Forum zum Thema als bisher zu bieten. Angeregt wurden verschiedene Informationsformate, z.B.:
- hilfreiche Informationen, Materialien oder Best-Practice-Beispiele zur Verfügung zu stellen, z.B. als Newsletter, Wiki zur Dokumentation oder in anderer Form (analog oder digital)
- eine regelmäßig wiederkehrende Online-Sprechstunde bzw. einen Austausch per Videokonferenz mit verschiedenen Themenschwerpunkten
- Materialien zusammenzustellen, zu verlinken oder zu entwickeln:
- eine Toolbox für Gesprächsansätze zu umstrittenen Themen, wie z.B. die Wandzeitungsreihe der Bundeszentrale für Politische Bildung
- Methodenkoffer zu Themen z.B. zum Thema Antisemitismus, Antirassismus, Demokratie
- Veranstaltungsformate
- Aufklärung über rechte Diskursstrategien leisten12
- Vorlagen für Sticker, um umstrittene Titel zu markieren
- Informationen zu potentiellen Kooperations- oder Veranstaltungspartner*innen ggf. für Fortbildungen, z.B. Expert*innen für Kommunikation
- Bibliothekspolitische Unterstützung, z.B. durch
- Sammeln von Beispielen für Leitbilder oder Bestandspolicy-Erklärungen von Bibliotheken mit Bezug auf umstrittene Inhalte
- einen Fragenkatalog zum Thema „Wie positioniert sich meine Bibliothek?“
- Vorschläge zum Umgang mit den Träger*innen
- einen Überblick zu extremistischen Verlagen und Buchreihen geben
- eine Art Melderegister für Vorfälle in Bibliotheken etablieren
Fazit
Im Rahmen der zweistündigen Veranstaltung wurde kein Thema erschöpfend bearbeitet. Die engagierte Mitarbeit im World-Café und die Fülle der Ergebnisse und Wünsche aus der Berufspraxis waren jedoch beeindruckend, sodass sie zumindest die Motivation des Netzwerks weiter beflügelt hat. In der zusammenfassenden Abschlussdiskussion wurde herausgearbeitet:
- Es besteht großer Handlungs- und Vertiefungsbedarf in den Bereichen Bestandsaufbau und Veranstaltungsarbeit der meisten Bibliotheken. Unsicherheiten sind immer dann groß, wenn Begriffe wie „Neutralität“ oder „Safe Space“ nicht in Bezug auf den Auftrag der eigenen Institution und unter Einbeziehung von Umfeld und Communities geklärt sind. Dabei ist um eines kaum herumzukommen: Verhaltens- und Erwerbungsrichtlinien zu erarbeiten und transparent zu kommunizieren. Sie sind zur Orientierung der Mitarbeitenden unerlässlich.
- Mitarbeitende gewinnen Sicherheit durch Qualifikation, z.B. Fortbildungen zu Kommunikationstechniken.
- Die Veranstaltungsarbeit bedarf ausreichender Ressourcen für eine gute Vorbereitung, ggfs. mit Kooperationspartnern und auch mit Sicherheitskräften.
- Bei der Kontextualisierung gibt es keinen Königsweg, aber jede Bibliothek kann schon mit kleinen Formaten einen Anfang finden.
- Unsicherheiten werden und dürfen in konkreten Fällen immer auftreten. Sie sollten in der Institution oder in der Community im geschützten Raum aufgearbeitet werden können.
- Die Bereitstellung von Informationen, Methoden und Best-Practice-Beispielen kann die Arbeit der Öffentlichen Bibliotheken an den Rändern der Meinungsspektren unterstützen und erleichtern.
Das Netzwerk widmet sich nach der BiblioCon 2023 der Aufgabe, die während des Hands-on Lab geäußerten Wünsche und Vorschläge zu prüfen, zu priorisieren und ggf. umzusetzen. Neben den begrenzten Kapazitäten des Gremiums muss dabei auch die Frage berücksichtigt werden, wofür die bei rechtlichen oder bibliothekspolitischen Angelegenheiten besser aufgestellten Hauptamtlichen der Bibliotheksverbände die kompetenteren Ansprechpartner*innen sind.
1 IFLA und BID lehnen in den berufsethischen Kodizes bzw. Positionspapieren jegliche Zensur ab. Siehe hierzu: IFLA Code of Ethics for Librarians and other Information Workers (full version), <https://www.ifla.org/de/publications/ifla-code-of-ethics-for-librarians-and-other-information-workers-full-version/>, Stand: 22.09.2023; sowie Ethische Grundsätze von Bibliothek & Information Deutschland (BID) – Bundesvereinigung Deutscher Bibliotheksverbände e.V., <https://www.ifla.org/de/ethische-grundsatze-von-bibliothek-information-deutschland-bid-bundesvereinigung-
deutscher-bibliotheksverbande-e-v/>, Stand: 22.09.2023; Bibliothek und Information: Positionspapier zum Umgang mit umstrittenen Werken, <https://www.bibliotheksverband.de/sites/default/files/2020-11/2016_05_12_BID_
Positionspapier_Umstrittene_Werke.pdf>, Stand: 22.09.2023.
2 Rösch, Hermann. Informationsethik und Bibliotheksethik. Grundlagen und Praxis. (Grundlagen und Praxis. Bibliotheks- und Informationspraxis 68). Berlin: De Gruyter Saur, 2021, S. 247.
3 Einen guten Einstieg in die Problematik bietet die vom Berufsverband Information Bibliothek e.V. (BIB) durchgeführte Online-Podiumsdiskussion „Literatur an den Rändern s. Grantz, Kristin; Meinck, Beate; Fichtner, Annette; Rösch, Hermann; Seeger, Frank: Literatur an den Rändern. #vBIB20, Technische Informationsbibliothek (TIB) et al., 2020 s. <https://doi.org/10.5446/47563#t=14:24,22:38>, Stand: 22.09.2023.
4 Zu den Folien der Veranstaltung „Medien an den Rändern Öffentliche Arbeitssitzung, 01.06.2022 Diskussionsbeiträge und Handlungsempfehlungen zu umstrittenen Medien“ s. <https://opus4.kobv.de/opus4-bib-info/frontdoor/index/index/docId/17990>, Stand: 22.09.2023. Weitere Informationen <https://www.bib-info.de/berufspraxis/medien-an-den-raendern>, Stand: 22.09.2023.
5 Dieser Beitrag berichtet vom Hands-on Lab etc. „Medien an den Rändern: Wo fangen die Ränder an, wo hören sie auf?
Wie die Arbeit in Öffentlichen Bibliotheken aktiv unterstützen?“ am 25.03.2023 anlässlich der 111. BiblioCon in Hannover.
6 Als Schwarze Pädagogik werden Erziehungsmethoden bezeichnet, die Strafen, Kontrolle, Gewalt, Demütigungen oder Einschüchterungen verbunden sind, um Kinder oder Jugendliche unterzuordnen oder Erziehende zu erhöhen.
7 Sollen unverlangte Medien, die nicht ins Profil passen, zurückgesandt oder wie reguläre Buchspenden behandelt werden?
8 Kommunale Verwaltungen tolerieren Einlassbeschränkungen wegen des Neutralitätsgebots in der Regel nicht. Statt der Bibliothek könnten aber Kooperationspartner*innen als Veranstalter auftreten, denen die Bibliothek die Räume zur Verfügung stellt und das Hausrecht abtritt.
9 Neutralität in Bibliotheken fußt auf den Paragraphen §3 GG (Gleichbehandlungsgrundsatz), §5 GG (Informationsfreiheit) und §21 GG (parteipolitische Neutralität).
10 Eine differenzierte Darstellung unterscheidet zwischen parteipolitischer Neutralität und Werte-Neutralität.
11 Das Originalkonzept der Human Library stammt aus Dänemark, siehe <https://humanlibrary.org/>; Stand: 22.09.2023.
12 Die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin (MBR) stellt hierzu bereits Publikationen und andere Informationsmaterialien unterstützend zur Verfügung (siehe <https://www.mbr-berlin.de>). Stand: 22.09.2023.