Erwerbung, Erschließung und Bereitstellung problematischer Inhalte: Zum Umgang mit Rassismus, Kolonialismus und Extremismus in den Fachinformationsdiensten

Bericht über den von den Fachinformationsdiensten Geschichtswissen­schaft, Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa, Sozial- und Kulturanthropo­logie sowie der UAG Sacherschließung der AG FID in Kooperation mit der VDB-Fachreferatskommission veranstalteten Online-Workshop am 11. Oktober 2023

Der halbtägige Online-Workshop „Erwerbung, Erschließung und Bereitstellung problematischer Inhalte: Zum Umgang mit Rassismus, Kolonialismus und Extremismus in den Fachinformationsdiensten” fand mit über 150 Teilnehmenden statt. Die Fortbildungsveranstaltung wurde von den Fachinformationsdiensten Geschichtswissenschaft, Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa, Sozial- und Kulturanthropologie sowie der Unterarbeitsgruppe Sacherschließung (UAG SE) der Arbeitsgemeinschaft der Fachinformationsdienste (AG FID) in Kooperation mit der VDB-Fachreferatskommission organisiert und durchgeführt. Zunächst als Diskussionsauftakt innerhalb der Fachinformationsdienste geplant, entschied sich das Organisationsteam angesichts der sich abzeichnenden hohen Anmeldezahl für eine Öffnung des Workshops für Teilnehmende aus Gedächtnisinstitutionen (GLAM) und der Wissenschaft.

Ausgangslage

Die Fachinformationsdienste (FID) widmen sich der Versorgung ihrer Zielgruppe(n) bzw. zu betreuenden Fächer mit Informationsressourcen. Das kann den klassischen Erwerb von Printmedien, die Bereitstellung lizenzierter Online-Ressourcen oder die Erstellung von ‚eigenen‘ elektronischen Angeboten durch Retrodigitalisierung und Open-Access-Publikationsdienste beinhalten. Fast alle FID bemühen sich um einen umfassenden Nachweis fachlich relevanter Ressourcen in spezifischen Nachweisinstrumenten (Katalogen, Suchmaschinen, Bibliographien etc.) und streben eine möglichst tiefe fachlich und thematisch adäquate Erschließung an. Dabei greifen sie z. B. auf die Schlagwörter der Gemeinsamen Normdatei (GND) und fachliche Thesauri zurück.

Die Ausrichtung der FID auf Spezialbedarfe der Fächer wirft immer wieder Fragen nach dem Umgang mit herausfordernden Materialien auf, die im Kontext aktueller wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Debatten und mit Blick auf die wachsende Bedeutung digitaler Formate neu gestellt werden müssen. Aufgrund ihrer fachspezifischen Expertise sind FID-Bibliotheken häufig Anlaufstellen für Forschende sowie Bibliotheken, Archive und Sammlungen hinsichtlich des Umgangs mit ethisch problematischen, aber forschungsrelevanten Quellen-, Literatur- und Datenbeständen. Das betrifft erstens die Frage nach der Digitalisierung, Bereitstellung und Kontextualisierung fragwürdiger Bilder oder Texte aus vergangenen Zeiten, die durch antisemitisches, rassistisches oder kolonialistisches Gedankengut geprägt sind und zugleich relevante Quellen für die Forschung darstellen. Das gilt zweitens auch für die Anschaffung und Form der Bereitstellung aktueller Werke umstrittener Autor*innen und damit verbunden die Definition dessen, was als extremistisch zu verstehen ist. Drittens schlägt sich die Thematik in Diskussionen über Ansetzungsformen und Begrifflichkeiten in der kooperativ gepflegten GND, fachlichen Thesauri sowie anderen Erschließungsinstrumenten nieder.

Der Workshop thematisierte Beispiele aus der Arbeit der FID und ihrer Auseinandersetzung mit rassistischen, kolonialistischen oder anderweitig extremistischen Materialien in einem offenen Forum und unter Einbindung weiterer Akteur*innen. So ergänzten zwei Beiträge außerhalb des FID-Netzwerks oder FID-Systems die Beispiele.1 Ziel war es, verschiedene Probleme und Lösungsansätze vorzustellen und mit einer breiteren Bibliotheks- und Fachcommunity in den Austausch über weitere Problemfelder zu treten. Dabei galt es, Strategien und (soweit möglich) kooperative Ansätze zu initiieren bzw. weiterzuführen. Angesprochen waren zudem insbesondere Kolleg*innen oder Forschende, die sich in ihrer Arbeit und ihren Projekten mit ähnlichen Fragen auseinandersetzen.

Programm der Veranstaltung

Nach der Begrüßung und Einführung durch Matthias Harbeck (Universitätsbibliothek der Humboldt-Universität zu Berlin, FID Sozial- und Kulturanthropologie) und Gregor Horstkemper (Bayerische Staatsbibliothek in München, FID Geschichtswissenschaft) stellten die Referierenden in sechs Beiträgen, die in drei Blöcke unterteilt waren, Erwerbung, Erschließung und Bereitstellung problematischer Inhalte in unterschiedlichen Einrichtungen vor. An die zehnminütigen Beiträge schlossen sich fünf Minuten für Verständnisfragen an, die Julia Zenker (Universitätsbibliothek der Humboldt-Universität zu Berlin, FID Sozial- und Kulturanthropologie) und Silvia Daniel (Bayerische Staatsbibliothek in München, Abteilung Bestandsentwicklung und Erschließung 1) moderierten.

Erwerbung

Den ersten Block eröffnete Volker Adam vom FID Nahost-, Nordafrika- und Islamstudien mit einem Beitrag über „Imperialismus, Kolonialismus, Orientalismus, territoriale Konflikte, Bürgerkriege, ethnische Konflikte, konfessioneller Streit … – (zu) viele kontroverse Themen im Erwerbungsalltag des FID Nahost”. Anhand praktischer Beispiele warf Adam einen kritischen Blick auf die erworbenen Bestände und das wachsende digitale Angebot des FID Nahost-, Nordafrika- und Islamstudien, die brisante Themen und Begrifflichkeiten zeigen. Dabei umriss er – zum Teil ambivalente – Rahmenbedingungen, die den Literaturerwerb aus der Region Nahost und Nordafrika (MENA) kennzeichnen. Wie geht man damit um, wenn der Anspruch besteht, diese Medien und Informationen überregional sichtbar, leicht auffindbar und einer möglichst großen Zahl von Interessierten zugänglich zu machen? Wie sieht es angesichts der schon seit längerem existierenden Orientalismusdebatte und dem nun vermehrt diskutierten Bedürfnis nach einer Dekolonisierung von Wissensbeständen, mit der Praxis der Generierung von weithin sichtbaren Normdaten, Terminologien oder ontologischen Hierarchien und Zusammenhängen aus? Wer definiert zum Beispiel bei der Sacherschließung, was noch eine islamische ‚Sekte‘ sein könnte und ab wann etwas eine eigene ‚Religion‘ darstellt? Wo hört beim Beschlagworten die ‚Unabhängigkeitsbewegung‘ auf und fängt der ‚Terrorismus‘ an? Ist es legitim, eine für die Region nicht untypische Darstellung von ‚Feinden‘ oder ‚Häretikern‘ in lizenzierten Datenbanken als Nationallizenz zur Verfügung zu stellen, oder riskiert es die Bibliothek, sich ideologisierten Vorwürfen auch in der deutschen Öffentlichkeit auszusetzen (z. B. Nahostkonflikt)?

Katarzyna Adamczak vom FID Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa stellte in ihrem Beitrag „Kaufen oder nicht kaufen? Zum Umgang mit problematischer Literatur im Erwerbungsalltag des FID Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa“ konkrete Beispiele aus der Praxis der Osteuropaabteilung der Bayerischen Staatsbibliothek in München vor, um Fragen der Erwerbung und Bereitstellung problematischer Titel zu erläutern. Antisemitische, geschichtsrevisionistische, rechtsradikale und tendenziöse Literatur wird vom FID gezielt gesammelt und mit dem Formschlagwort „Quelle“ bezeichnet, um sie für die künftige Forschung zu Geschichte, Politik und Gesellschaft der jeweiligen Länder auffindbar zu machen. Diese Literatur umfasst wissenschaftliche Publikationen, philosophische Abhandlungen, Belletristik (darunter auch Kinderliteratur), Lehrbücher, Nachschlagewerke und Graue Literatur. Der Zugang zu Materialien, die nach dem deutschen Strafgesetzbuch eindeutig eine strafrechtliche Relevanz aufweisen, ist beschränkt, sodass diese nur nach Unterzeichnung einer Selbstauskunft im Lesesaal benutzt werden dürfen. Einen Sonderfall stellen Publikationen dar, die in den jeweiligen Ländern des östlichen Europas verboten sind, wie z. B. regimekritische Schriften oder Texte von indizierten Autorinnen und Autoren. Da sie nur in kleinen Auflagen erscheinen, soll der Zugang zu ihnen künftig durch Lesesaalauflagen reguliert werden, um sie vor missbräuchlicher Nutzung und damit einhergehendem Verlust zu schützen.

Erschließung

Martin Völkl von der Universitätsbibliothek Augsburg begann den zweiten Block mit einem Beitrag „Zur Erschließung weltanschaulich problematischer Tendenzen in Informationsressourcen – eine Problemskizze”. In diesem akzentuierte er verschiedene Problemfelder und ging der Frage nach, welche Schwierigkeiten auftreten, wenn man ‚problematische‘ weltanschauliche Tendenzen in der inhaltlichen Erschließung von Informationsressourcen identifizieren möchte. Mit dem bibliothekarischen Sachverstand und dem thematischen (Fach-)Wissen bezüglich des Inhalts eines Dokuments skizzierte Völkl zwei Voraussetzungen für eine qualitätsvolle intellektuelle verbale Inhaltserschließung. Anschließend erörterte er seine Frage anhand verschiedener Beispiele und kam zu dem Schluss, dass es Unterschiede zwischen der Erschließung von Themen in Dokumenten sowie der Identifizierung und Auszeichnung ‚problematischer‘ weltanschaulicher Tendenzen gebe. Während es bei der verbalen Inhaltserschließung darum ginge, das Thema (oder ggf. auch mehrere Themen) einer Informationsressource inhaltlich vollumfänglich zu erfassen und im Rahmen einer Schlagwortfolge auszudrücken, würden beim Blick auf weltanschauliche Tendenzen, die sich in einem Dokument widerspiegeln, nur solche ins Auge fallen, die ‚problematische‘ Standpunkte repräsentieren. Dabei gebe es jedoch keine allgemeinverbindlichen Regeln, was eine ‚problematische‘ weltanschauliche Tendenz sei und wie sie in Dokumenten auszuzeichnen sei. Nicht zuletzt bestünde kein wissenschaftlicher oder gesellschaftlicher Konsens, welche Aussagen in einem Dokument dieses zu einem Ausdruck eines weltanschaulich ‚problematischen‘ Standpunktes machen.

Kerstin von der Krone vom FID Jüdische Studien beleuchtete in ihrem Beitrag „Sammelschwerpunkt Antisemitismus, Holocaust und Nationalsozialismus – Herausforderungen für die Bereitstellung und Erschließung problematischer Inhalte” den Umgang der Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg (UB JCS) in Frankfurt am Main mit einschlägigen Werken. Insbesondere ging sie auf Aspekte der Inhaltserschließung ein, die an der UB JCS sowohl unter Anwendung gängiger bibliothekarischer Klassifikation, wie der GND als auch einem fachspezifischen Vokabular für Hebraica und Judaica erfolgt. Dabei thematisierte sie ebenso Probleme innerhalb einiger Erschließungswerkzeuge, die teils mit problematischen oder dem Gegenstand nur unzureichend gerecht werdenden Begriffen operieren. Der FID Jüdische Studien erwirbt entsprechende Literatur kontinuierlich und führt damit einen Sammelschwerpunkt der Sondersammelgebiete (SSG) fort. Zugleich verwahrt die UB JCS als Teil ihrer Hebraica- und Judaica-Sammlung einschlägige historische Bestände der Stadtbibliothek Frankfurt am Main, die im Rahmen der Freimann-Sammlung digitalisiert wurden.2 Diese virtuelle Rekonstruktion der Sammlung ist überwiegend frei zugänglich, wobei die digitale Präsentation die Systematik des historischen Judaica-Katalogs enthält. Hier wurden Antisemitica gemeinsam mit Anti-Antisemitica unter Geographie und GeschichteAllgemeine GeschichteGeschichte der Neuzeit Judenfrage eingeordnet. Die virtuelle Freimann-Sammlung bindet die historische Systematik als zusätzliche inhaltliche Kontextualisierung ein.3

Bereitstellung

Den letzten Block leitete Matthias Harbeck vom FID Sozial- und Kulturanthropologie mit seinem Beitrag zur „Digitalisierung ethnologischer Werke aus kolonialen Kontexten – Fragen der Freiwilligkeit, der Reproduktion von Rassismus und Sexismus sowie kulturellen Respekts” ein. Er stellte Beispiele für ethisch problematisches Material aus kolonialen Kontexten vor und fragte nach dem Umgang damit. Praxisbeispiele aus verschiedenen Häusern sollen Möglichkeiten aufzeigen und zugleich Aufwände und Anforderungen der Wissenschaft bewusst machen. Auch wenn die ethnologischen Fächer sich seit längerem kritisch mit ihrem fachlichen Erbe auseinandersetzen und ethnologische Museen die Speerspitze in der gesellschaftlichen Diskussion um Restitution von Objekten mit kolonialer Provenienz bilden, fangen Bibliotheken gerade erst an, sich damit auseinanderzusetzen, wie sie mit den nicht unikalen Publikationen in ihren Beständen im Kontext von Digitalisierungsprojekten umgehen sollen: Bisher wurden vor allem in der Massendigitalisierung Werke digitalisiert und bereitgestellt, um nicht zuletzt den Förderbedingungen der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) Folge zu leisten. Durch die gesellschaftlichen Debatten zunehmend sensibilisiert für ethische Vorbehalte, steht eine solche Digitalisierung jetzt auf dem Prüfstand. Die Werke sind Kinder ihrer Zeit, geprägt durch den Rassismus ihrer Zeitgenossen und die Machtverhältnisse ihrer Epoche.

In einem abschließenden Beitrag „Ein Blick über den FID-Tellerrand: Wie das stern-Fotoarchiv der Bayerischen Staatsbibliothek mit problematischen Inhalten umgeht” berichtete Eva Kraus von der Bayerischen Staatsbibliothek (BSB) in München anhand von Beispielen des stern-Fotoarchivs, wie an der BSB die Entscheidung über die Freigabe von Bildern für das Bildportal getroffen wird. 2019 hat die BSB das analoge Fotoarchiv des Wochenmagazins stern übernommen. Als eine der international bedeutendsten Dokumentationen des Fotojournalismus ist das stern-Fotoarchiv von einzigartiger zeithistorischer Bedeutung. Es enthält geschätzte 15 Millionen Aufnahmen in Form von Negativen, Dias und Abzügen aus der Zeit von 1948 bis 2001. Derzeit wird es durch die BSB digitalisiert und langfristig gesichert. Die Digitalisate werden nach ihrer Erschließung sukzessive in einem im Februar 2023 gelaunchten Bildportal für Forschung und Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die Entscheidung über die Freigabe der Bilder für das Bildportal erfolgt nach einem selbst erstellten Regelwerk, das sowohl den juristischen Rahmen wie auch ethische Fragen berücksichtigt. Bilder mit problematischem Inhalt werden für das Portal gesperrt.

Ausgewählte Schwerpunkte der Diskussion

Erwerbung problematischer Inhalte und Bestell- / Ausleih-Regelungen

Das Plenum erörterte in der Diskussion nach den einzelnen Beiträgen und in der Abschlussdiskussion das Dilemma, dass mit der Erwerbung problematischer Inhalte auch die Verfasser*innen bzw. Verlage der Schriften unterstützt werden. Peter Altekrüger (Bibliothek des Ibero-Amerikanischen Instituts, FID Lateinamerika, Karibik und Latino Studies) plädierte für eine umfängliche Erwerbung – auch problematischer Titel – als Kernaufgabe von Bibliotheken. Katarzyna Adamczak erläuterte im Anschluss an ihren Beitrag das Vorgehen der BSB in München. Dort werden problematische Titel erworben, als Quelle für die Forschung erschlossen und mit Zugangsbeschränkungen für die Nutzung im Lesesaal versehen. In einigen Einrichtungen müssen Nutzende vorab eine Selbstauskunft ausfüllen, die vor Freigabe der Nutzung geprüft wird.4 Auf einen weiteren Aspekt wies Olaf Hamann (Staatsbibliothek zu Berlin, FID Slawistik) hin. Er ergänzte, dass die Beschaffungswege aus osteuropäischen Krisengebieten seit dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine erschwert sind. Teilweise wird keine Literatur mehr in Staaten geliefert, welche die Ukraine unterstützen.

Erschließung und (Norm-)Vokabularien

Ein Einwand von Leonie Rodrian (Zentral- und Landesbibliothek Berlin) zeigte unterschiedliche Standpunkte hinsichtlich der Notwendigkeit ergänzender Kennzeichnung und Kontextualisierung problematischer Inhalte für die Zielgruppen Öffentlicher und Wissenschaftlicher Bibliotheken. Denn nicht immer sind problematische Inhalte auf den ersten Blick, z. B. durch den Titel erkennbar. Im Plenum wurde intensiv die Frage diskutiert, inwieweit bei der Erschließung problematischer Titel diese über Formschlagwörter (z. B. als Quelle für die Forschung etc.) gekennzeichnet werden sollen/können. Kann über diese Form der Kennzeichnung hinaus auch eine Bewertung des Inhalts über Sachschlagwörter erfolgen? Widerspricht eine solche Art der Erfassung nicht den RDA-Standards? Hier stehen die Bibliotheken bzw. Gedächtniseinrichtungen ebenfalls vor einer Herausforderung.

Ob und wie Methoden der maschinellen Erkennung zukünftig helfen können, problematische Titel schneller und gezielter zu identifizieren, erläuterte Eva Seidlmayer (Deutsche Zentralbibliothek für Medizin, ZB MED) in der Diskussion. Sie berichtete vom DFG-Projekt AQUAS – Automatic Quality Assessment: NLP methods for semantic mapping of life-science texts der ZB MED – Informationszentrum Lebenswissenschaften.5 In diesem Projekt beschäftigt sich Seidlmayer mit der Anreicherung von Publikationsmetadaten. Anhand der Übereinstimmung mit den DFG-Leitlinien zur guten wissenschaftlichen Praxis (GWP) werden Publikationen gekennzeichnet. Zugleich wird ein Machine-Learning-Modell trainiert, das eine automatische Ähnlichkeit von Textmerkmalen zu den Kategorien ‚desinformierende Publikationen‘, ‚populärwissenschaftliche Publikationen‘, ‚wissenschaftliche Publikationen‘ sowie ‚alternativ-wissenschaftliche Publikationen‘ ermittelt. Die Qualität der Kategorisierung unbekannter Texte durch das Machine-Learning-Modell hängt dabei vom Textkorpus ab, das für das Training des Modells verwendet wurde. Gudrun Wirtz (BSB, Osteuropaabteilung) betonte in der Diskussion die Bedeutung der Erschließung von (Quellen-)Sammlungen, um Forschenden einen Zugang zum Material zu gewähren.

Digitale Bereitstellung und Zugang zum Material

Hinsichtlich des Zugangs zu problematischen Materialien stellte sich die Frage, nach welchen Kriterien vorgegangen und welche Personen entscheidungsberechtigt sind. Die Nutzungsmodalitäten dieser Materialien, sowohl physisch als auch digital, müssen geklärt werden. Die Digitalisate von ethisch-sensiblem Material unter einer freien Lizenz zu veröffentlichen, kann Einrichtungen im Nachgang mitunter vor Herausforderungen stellen. Matthias Harbeck zeigte anhand eines Digitalisats des Frobenius-Instituts, das von der Bild-Zeitung ohne Quellenverweis genutzt wurde, wie leicht Entkontextualisierung bzw. falsche Bezüge den Inhalt des Materials verzerren können. Auf Nachfrage erläuterte Matthias Harbeck die Möglichkeit, die sogenannten Herkunftsgesellschaften einzubeziehen. Dabei sei zu berücksichtigen, dass diese nicht homogen sind und es deshalb nicht einfach sei, eine Ansprechperson zu finden. Wünschenswert wären Pilotprojekte, die entsprechende Lösungsstrategien erarbeiten und Aufwände transparent machen. Jana Spiller (Freie Universität Berlin) berichtete von ihrem Projekt, ein Stimmungsbild aus Tansania zur Digitalisierung tansanischer Objekte in Deutschland einzufangen. Kritisiert werden von tansanischer Seite sprachliche Barrieren. Vieles ist auf Deutsch und Englisch nur für Personen mit entsprechendem Bildungshintergrund zugänglich. Texte müssten auch in den jeweiligen Regionalsprachen verfügbar sein, für die automatisierte Übersetzungsprogramme nur sehr eingeschränkt genutzt werden können.

Fazit und Ausblick

Unter den Teilnehmenden bestand Konsens hinsichtlich der Notwendigkeit, verbindliche Wege und Absprachen zu finden, wie mit problematischen Materialien physisch und digital umzugehen ist. Die Bereitstellung dieser Materialien als Quellen für die Forschung wirft ethische Fragen auf: Unterstützt man mit der Erwerbung von Literatur direkt und/oder indirekt die Propaganda? Mit welchen Vokabularien kann diese Literatur erschlossen werden, wenn man nicht auf Begrifflichkeiten der Autor*innen bzw. Verlage zurückgreifen will? Wie werden problematische Materialien sichtbar gemacht und ist das gewünscht? Wie ist dies im Kontext von Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit zu bewerten? Und nicht zuletzt: Wie geht man mit diesen Fragen vor dem Hintergrund begrenzter zeitlicher, personeller und finanzieller Spielräume in der täglichen Arbeitspraxis um?

Der Workshop stieß auf eine breite Resonanz, die weit über den FID-internen Austausch hinausging und durch das Online-Format gefördert wurde. Das Organisationsteam hat sich daher entschlossen, den begonnenen Dialog weiterzuführen.

Simone Franz, Universitätsbibliothek der Humboldt-Universität zu Berlin, https://orcid.org/0000-0003-4525-6977

Franziska Voß, Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, https://orcid.org/0000-0002-6472-4177

Zitierfähiger Link (DOI): https://doi.org/10.5282/o-bib/6008

Dieses Werk steht unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 4.0 International.

1 Martin Völkl (Universitätsbibliothek Augsburg): Zur Erschließung weltanschaulich problematischer Tendenzen in Informationsressourcen – eine Problemskizze sowie Eva Kraus (Bayerische Staatsbibliothek in München, stern-Fotoarchiv): Ein Blick über den FID-Tellerrand: Wie das stern-Fotoarchiv der Bayerischen Staatsbibliothek mit problematischen Inhalten umgeht.

2 Die Freimann-Sammlung der UB JCS basiert auf dem 1932 erschienenen Katalog der Judaica der Stadtbibliothek Frankfurt am Main, verfasst von Prof. Dr. Aron Freimann, https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/freimann, Stand: 13.12.2023.

3 https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/freimann/nav/classification/115, Stand: 13.12.2023.

4 Siehe dazu Krüll, Nadja: Eine Handlungsempfehlung zum Umgang mit sekretierter Literatur an wissenschaftlichen Bibliotheken am Beispiel der Universitätsbibliothek J. C. Senckenberg in Frankfurt am Main, Masterarbeit, Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin 2017 (Berliner Handreichungen zur Bibliotheks- und Informationswissenschaft 425). Online: https://doi.org/10.18452/18399.

5 https://www.zbmed.de/en/research/current-projects/aquas, Stand: 13.12.2023.